Rz. 38

Nach § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB ist vorsichtig zu bewerten. Nach diesem Grundsatz der Vorsicht ist aber nicht jedes Maß der Unterbewertung gerechtfertigt. Durch Unterbewertung können stille Reserven[1] entstehen, deren Bildung und Auflösung über die Entwicklung des Unternehmens täuschen. Sobald an laufenden Geschäften nicht mehr verdient wird, werden stille Reserven aufgelöst. So werden in Verlustjahren die Gläubiger über die wahre Situation getäuscht und zu weiteren Krediten veranlasst, die sie bei Kenntnis der tatsächlichen Ertragslage des Unternehmens nicht gewährt hätten. Aus dem Grundsatz der Vorsicht folgt daher, Schätzgrößen so festzulegen, dass nicht durch zu optimistische Schätzungen der Periodenerfolg möglicherweise zu hoch ausgewiesen wird.

 

Rz. 39

Die für den Wertansatz der Vermögensgegenstände maßgebenden Umstände können nicht immer durch Zählen, Messen oder Wiegen bestimmt werden. Oft sind sie zu schätzen, z. B. die Nutzungsdauer von Sachanlagen, der Umlaufvermögensgegenständen beizulegende niedrigere Wert oder die Höhe von Rückstellungen. Für Schätzungen gibt es einen Rahmen mit einem unteren und einem oberen Grenzwert. Innerhalb dieses Bewertungsrahmens muss ein Betrag gewählt werden, wobei umstritten ist, welcher Wert heranzuziehen ist. Vorsichtig meint grundsätzlich die sorgfältige Erfassung bzw. Berücksichtigung sämtlicher wertbeeinflussender Faktoren (Risiken und Chancen). Daraus ergibt sich zunächst eine Bewertungsbandbreite, die von der Worst-Case-Bewertung auf der einen Seite und der Best-Case-Bewertung auf der anderen Seite begrenzt wird. Folgende Konzepte zur Festlegung auf einen Wert innerhalb dieser Bandbreite sind hier u. a. im Schrifttum vorhanden:

  • Bilanzierung "eines" pessimistischen Werts der Bandbreite (da die zu favorisierende Bewertung mit dem Mittelwert der Bandbreite nebst der Bilanzierung einer Bandbreitenrückstellung i. H. der Differenz zwischen Mittelwert und ungünstigerem Wert nicht zulässig ist);[2]
  • willkürfreie Schätzung, wobei Folgendes gilt: Bei den Aktiva nahe am unteren Grenzwert und bei Rückstellungen nahe am oberen Grenzwert;[3]
  • Schätzung nach vernünftigem kaufmännischem Ermessen, sofern möglich auf Basis statistischer Grundlage bzw. von Szenario-Modellen;[4]
  • Wahrscheinlichkeitsverteilung unter Berücksichtigung von Risikoaversion, d. h. in Konsequenz tendenziell eher niedrige Wertansätze auf der Aktivseite und eher höhere auf der Passivseite;[5]
  • Faktoren, die zu einer niedrigeren Bewertung führen, ist "ggf." ein größeres Gewicht beizumessen.[6]

Im Rahmen der vorsichtigen Bewertung sind namentlich

  1. alle vorhersehbaren Risiken und Verluste zu berücksichtigen, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekannt geworden sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 HGB),
  2. Gewinne nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 HGB).

Aus "namentlich" folgt, dass die beiden Grundsätze besondere Ausprägungen des Vorsichtsprinzips sind. Das unter Nr. 1 genannte Prinzip ist das sog. Imparitätsprinzip, der Grundsatz unter 2 das sog. Realisationsprinzip. Damit ist das Vorsichtsprinzip nicht so auszulegen, dass pauschal eine Höhergewichtung niedriger/ungünstiger/pessimistischer Werte abzulehnen ist, da diese keinesfalls frei von Ermessenspielräumen ist. Ein derartiges Vorgehen muss zwangsläufig zu einer Abweichung von der Realität bzw. der individuellen Situation und damit zu einer nicht tatsachengerechten Darstellung der Vermögens-, Finant- und Ertragslage führen. Warum eine pauschale/einkalkulierte Abweichung von der Realität "vorsichtig" sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Pauschalen Vorgehensweisen kommt vielmehr grundlegend der Charakter von Willkür zu. Im Übrigen ergeben sich im Handelsrecht unzählige Ermessensspielräume, deren Ausnutzung dem Kaufmann innerhalb vernünftiger kaufmännischer Beurteilung bzw. Willkürfreiheit ohnehin zugestanden wird. Daher folgt aus der Vorgabe zur vorsichtigen Bewertung nicht eine gebotene Abweichung von den (statistisch) wahrscheinlichsten Werten innerhalb der Bandbreite bzw. von den Erwartungswerten, was auch an folgendem Beispiel verdeutlicht werden soll.[7]

 
Praxis-Beispiel

Vorsichtige Bewertung

Sachverhalt

Der Konsumgüterhersteller S – der sich bislang auf die Produktion von Tablets beschränkt und noch keine Smartphones hergestellt hat – hat in Deutschland im Laufe des Geschäftsjahrs ein Smartphone auf den Markt gebracht – das Stetigkeitsgebot ist infolge der nicht gegebenen Art- und Funktionsgleichheit insofern hier nicht zu beachten. Im Rahmen der Rückstellungsbewertung stellt sich daher die Frage nach der Höhe des nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrags für eine entsprechende Gewährleistungsrückstellung. Zur Ermittlung des Erfüllungsbetrags greift S (in Abhängigkeit seiner Produktarten) regelmäßig entweder auf vergangenheitsorientierte Gewährleistungs...

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