EuGH-Urteil zur verweigerten Flüchtlingsaufnahme in Osteuropa

Die strikte Weigerung der EU-Mitgliedsstaaten Polen, Ungarn und Tschechien, die EU-Beschlüsse zur Verteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU umzusetzen, verstößt nach einer Entscheidung des EuGH gegen zwingendes EU-Recht. Sanktionen sind mit dieser Entscheidung allerdings (noch) nicht verbunden. 

Einige südeuropäische Staaten mit EU-Außengrenzen ächzen spätestens seit dem Jahr 2015 unter der Last der hohen Flüchtlingszahlen und der inzwischen allgemein bekannten, teils dramatischen Zustände in den Aufnahmelagern. Bereits im September 2015 haben die EU-Innenminister zur Entlastung dieser Staaten eine Umverteilung von Asylbewerbern nach einem Quotensystem innerhalb der Mitgliedstaaten beschlossen (EU-Beschluss 2015/1523 u.a.)

Kein einziger Asylbewerber nach Ungarn und Polen

Die osteuropäischen Staaten Polen, Ungarn und Tschechien verweigern die Umsetzung dieser EU-Beschlüsse. Tschechien hat bisher zwölf Flüchtlinge bzw. Asylbewerber aufgenommen, Polen und Ungarn Null. Statt der nach den Beschlüssen vorgesehenen Verteilung von 160.000 Asylbewerbern aus Italien und Griechenland in die übrigen EU-Staaten wurden tatsächlich nur 35.000 umgesiedelt, die meisten davon nach Deutschland.

Klage Ungarns und der Slowakei gegen Zwangsquoten

Ungarn und die Slowakei hatten vor dem EuGH eine Klage gegen den Umverteilungsschlüssel angestrengt. Besonders Ungarn argumentierte mit der EU-Bestimmung des Art. 72 AEUV, wonach jeder EU-Mitgliedstaat die ausschließliche Zuständigkeit für seine innere Sicherheit besitzt. Eine zwangsweise Zuteilung von Flüchtlingen berühre die innere Sicherheit Ungarns in ihrem Kern und unterliege damit nicht der Zuständigkeit der EU.

Der EuGH sah das anders und ordnete die Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen in einer die gesamte EU betreffenden Notlage als Kernaufgabe der EU ein (EuGH, Urteil v.6.9.2017, C-643/15; C-647/15).

EuGH sieht klare Rechtsverletzung in der Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen

Insoweit war es nicht überraschend, dass der EuGH auf die Klage der EU-Kommission gegen die drei osteuropäischen Staaten nun zu dem klaren Ergebnis gekommen ist, dass die Verweigerung der Umsetzung der EU-Umverteilungsbeschlüsse gegen europäisches Recht verstößt. Die wiederholte Argumentation der osteuropäischen Staaten, bei Aufnahme einer Vielzahl von Flüchtlingen sei die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gefährdet, überzeugte die europäischen Richter auch diesmal nicht.

Auch der Hinweis Tschechiens, erhebliche Kosten für die Sicherung der EU-Außengrenze aufgewendet und damit hohe finanzielle Lasten übernommen zu haben, stieß auf wenig Verständnis.

Bei Gefährdung der inneren Sicherheit kann jeder Staat eine Flüchtlingsaufnahme im Einzelfall ablehnen

Der EuGH wies besonders darauf hin, dass die Beschlüsse der EU-Minister für die einzelnen Staaten umfangreiche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit enthielten. Jeder Staat habe nach den Beschlüssen die Möglichkeit, die Aufnahme bestimmter Asylbewerber zu verweigern, wenn im Einzelfall besondere Gründe hierfür gegeben seien, insbesondere wenn der konkrete Asylbewerber Anlass zur Besorgnis über die innere Sicherheit gebe.

Rechtssetzungsakte müssen innerhalb der EU eingehalten werden

Schließlich stellte der BGH klar, dass wirksam gefasste Beschlüsse in der EU einzuhalten sind. Die Solidarität der EU-Rechtsgemeinschaft würde erheblich beeinträchtigt, wenn die Rechtsverbindlichkeit von Beschlüssen von den einzelnen Staaten je nach Gusto einfach nicht beachtet würde. Auch die Generalanwältin des EuGH hatte in ihren Schlussanträgen ähnlich argumentiert und bezeichnete eine Missachtung der EU-rechtlichen Pflichten durch einzelne Staaten

als einen gefährlichen ersten Schritt hin zum Zusammenbruch einer der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten geordneten und strukturierten Gesellschaft.“.

Können Ungarn, Polen und Tschechien jetzt zur Flüchtlingsaufnahme gezwungen werden?

Die klare Antwort heißt nein. Eine unmittelbare Möglichkeit, das Urteil des EuGH gegen die betroffenen Staaten zu vollstrecken, hat die EU nicht. Aus dem Urteil erwächst nicht einmal eine unmittelbare Möglichkeit zur Sanktionierung der festgestellten Rechtsverstöße. Zum Zwecke der Sanktionierung müsste die EU-Kommission auf Grundlage des nun ergangenen Urteils erneut vor dem EuGH auf Verhängung einer Strafe rklagen. Erst dann könnte der EuGH eine Strafe gegen die betreffenden Staaten festsetzen.

Urteil des EuGH ist nur ein stumpfes Schwert

Die Höhe des Strafmaßes wäre dabei an der Schwere und Dauerhaftigkeit der Rechtsverstöße zu orientieren. Auch die Finanzkraft des jeweiligen Staates würde bei dem Strafmaß eine Rolle spielen. Die Kommission selbst hat sich zu dieser Frage noch nicht geäußert, scheint vor einer weiteren Klage aber eher zurückzuschrecken, zumal die EU inzwischen von den Zwangsquoten bei der Umverteilung von Flüchtlingen abgerückt ist. Dann wäre das EuGH-Urteil eine Entscheidung ohne fassbare Folgen.

(EuGH, Urteil v. 2.4.2020, C-715/17; 718/17; 719/17)

Hintergrund:

Seit Jahren gelingt es der EU nicht, in Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik eine einheitliche Haltung zu finden. Die Crux liegt u.a. in dem Dublin-Abkommen, wonach in der Regel der Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betritt. Diese Regelung benachteiligt insbesondere die an den südlichen Außengrenzen liegenden Staaten wie Griechenland, Italien und Spanien. Auch Österreich lehnt es kategorisch ab, eine Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen einzugehen. In den nächsten Wochen will die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deshalb einen neuen Migrationspakt vorlegen.

Menschenunwürdige Zustände in den Flüchtlingslagern

Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit langem die menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern. Auf den griechischen Inseln Lesbos, Samos, Kos, Leros und Chios leben zur Zeit ca. 40.000 Flüchtlinge, obwohl nur eine Kapazität von 6.000 Plätzen zur Verfügung stellt. Ärzte ohne Grenzen warnen insbesondere vor der Ausbreitung des Covid-19-Virus in Flüchtlingslagern. Die Flüchtlinge leben dort so auf engstem Raum, dass jede Abstandsregel dort reine Makulatur wäre.

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Anmerkung:

Auch die Corona-Krise wird möglicherweise demonstrieren, ob es eine Solidarität in der EU gibt und wieweit nationale Egozentrik und fehlender europäischer Gemeinsinn von EU-Institutionen beeinflusst werden können.

Schlagworte zum Thema:  EuGH, Urteil, Flüchtlinge