Zeit und Recht : Misshandelte Kinder und Behördenversagen

Manche Dinge werden einfach nicht besser. Trotz aller Bemühungen zur Verbesserung des Schutzes von Kindern in der Gesellschaft, sterben Kinder jeden Alters, weil Eltern sie verhungern lassen oder sogar zu Tode prügeln. Die Behörden schauen hilflos oder tatenlos zu und berufen sich auf eine restriktive Rechtsprechung. Ein Kinderschutzgesetz, das in solchen Fällen Kinderschutz über Elternrechte stellt, könnte schützende Leitplanken liefern.

Unfassbar an diesen Vorgängen ist einiges: Das scheinbar völlige Desinteresse der Eltern an der seelischen oder physischen Beschädigung ihrer Kinder ebenso wie die ungeheure Brutalität und Wut, die manche Väter (und auch Mütter) gegenüber ihren Kindern zeigen. Unfassbar ist aber in vielen Fällen auch die Hilflosigkeit und häufig Untätigkeit der Behörden, insbesondere der zuständigen Jugendämter. Geradezu grotesk mutet die Chuzpe an, mit der die Behörden in solchen Fällen oft jegliches Verschulden und jegliche Verantwortung weit von sich weisen.

Der tote Junge aus Lenzkirch – ein exemplarischer Fall

Am 18. Dezember 2013 wurde in Norddeutschland die dreijährige Yagmur von ihrer Mutter totgeschlagen. Am 16. Januar 2015 starb im badischen Lenzkirch ein dreijähriger Junge. Die Fälle weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Bei seiner Geburt im Jahr 2011 befand sich die Familie in Lenzkirch bereits in sozialpädagogischer Betreuung des Jugendamtes. Bereits im Juli 2013 – das Kind war inzwischen zwei Jahre alt – stellten die Ärzte des Universitätsklinikums in Freiburg Verletzungen fest, die sie auf körperliche Misshandlung zurückführten.

Die Ärzte melden dies dem Kinderschutzzentrum. Das Jugendamt ordnete darauf ein Kinderschutzverfahren an. In der Folge schaute die Familienhilfe 5 Stunden pro Woche vorbei, eine Dorfhelferin war täglich 8 Stunden in der Familie. Anlässlich einer Untersuchung des Kindes im Juli 2014 erstattete die Freiburger Kinderklinik aufgrund eines neuen Verdachts Strafanzeige gegen Unbekannt und erklärte schriftlich  gegenüber dem Jugendamt, eine Rückkehr des Kindes in die Familie sei nicht zu verantworten.

Jugendamt leitet Standardmaßnahmen ein – das Kind stirbt

Im Rahmen eines erneuten Kinderschutzverfahrens wurde zwischen den Parteien einvernehmlich vereinbart, dass der Stiefvater sich von der übrigen Familie räumlich trennt. Nachdem die Staatsanwaltschaft das gegen den Stiefvater eingeleitete Ermittlungsverfahren am 8.10.2014 eingestellt hatte, stimmte das Jugendamt einer Wiederaufnahme der Familiengemeinschaft zu unter der Auflage der Aufnahme einer Familientherapie sowie einer 14-tägigen Kontrolle des Kindes durch einen Kinderarzt. Die Familientherapie begann am 14.2.2015. Am 16.2.2015 stellte der Kinderarzt den Tod des Jungen fest. Nach Aussagen des Stiefvaters war er die Treppe heruntergestürzt.

Das Jugendamt hat alles richtig gemacht? 

Die Kommentare der zuständigen Landrätin und des Jugendamtes lauteten übereinstimmend:

Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt; aus unserer damaligen Erkenntnislage heraus habe man alles richtig gemacht. Das Instrumentarium der möglichen Präventivmaßnahmen wurde voll genutzt, anders durften und konnte man nicht handeln.

Die Diktion des Jugendamtes ähnelt frappierend der seinerzeitigen Reaktion der Behörden im Fall der dreijährigen Yagmur. Auch da wurde das Kind trotz einer erheblichen Bedrohungslage mehrfach wieder in die Obhut seiner Peinigerin zurückgegeben. Auch hier sah man  nach dem Tod des Kindes keinen Anlass zur Selbstkritik.

Die fachliche Kompetenz fehlte

Rechtlich ist eindeutig geregelt, dass im Fall einer akuten Gefährdung des Kindeswohls, insbesondere bei Gefahr für Leib und Leben, ein Kind sofort aus dem Familienverbund zu entfernen und gegebenenfalls ganz oder vorübergehend in eine Pflegefamilie zu verbringen oder einer anderen Unterbringung zuzuführen ist (§§ 8a SGB VIII, 1666 BGB). Offensichtlich besteht die Schwierigkeit für die Jugendämter darin, ein vorhandenes Gefährdungspotenzial richtig einzuschätzen.

Der Leiter des Instituts der Rechtsmedizin der Berliner Charité, Michael Tsokos verweist in einem Interview mit der Badischen Zeitung darauf, dass es für die Bewertung von Problemfällen an einer hinreichenden Ausbildung der Fachkräfte der Jugendämter fehle.

Täter täuschen gutgläubige Behördenmitarbeiter

Speziell im Fall Lenzkirch hätten sich die Familie und insbesondere der Stiefvater gegenüber den Ämtern äußerlich immer kooperativ und den Vorschlägen des Jugendamtes für Therapie und sonstige Maßnahmen aufgeschlossen gezeigt. Bei der Einschätzung der Situation habe das Jugendamt offensichtlich den Umstand verkannt, dass gerade im Fall von Kindesmisshandlungen die Täter häufig hochmanipulativ agierten und in der Lage seien, ihre destruktiven Persönlichkeitsanteile hinter einer vorgetäuschten Fassade zu verbergen. Dies sei nur für besonders geschultes Personal durchschaubar.

Klare Warnsignale mehrfach missachtet

Trotz der gut gemeinten Kooperationsversuche des Jugendamtes mit der „Täterfamilie“ bleibt festzuhalten, dass das Jugendamt objektive Warnsignale und die klare Aussage der Universitätsklinik von Juli 2014, wonach eine Rückkehr des Jungen in die Familie nicht zu verantworten sei, missachtet und den Jungen trotz dieser objektiven Befunde immer wieder der Obhut seines Peinigers übergeben hat.

Hierbei soll nicht verkannt werden, dass die Rechtslage in diesen Fällen nicht ganz einfach ist. Die Vorgehensweise des Lenzkircher Jugendamtes entsprach durchaus den Vorgaben des BVerfG, wonach die Herausnahme eines Kindes aus der Familie grundsätzlich die Ultima Ratio staatlicher Eingriffe in den Familienverbund darstellt (BVerfG, Beschluss v. 19.11.2014, 1 BvR 1178/14) und nur zulässig ist, wenn mildere Eingriffsmittel wie öffentliche Erziehungs- und sonstige Familienhilfen nicht erfolgversprechend bzw. ausgeschöpft sind (BVerfG, Beschluss v. 24.3.2020, 1 BvR 160/14).

Die geltende Rechtslage ist unbefriedigend

Viele Familienrechtler beklagen, dass infolge der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das Recht der Eltern in der behördlichen Praxis häufig über die Interessen des Kindes gestellt würde.

Sie fordern ein einheitliches Kinderschutzgesetz, das im Fall des Vorliegens von tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung den Schutz des Kindes über das Elternrecht stellt und ein schnelleres Handeln der Jugendämter ermöglicht. Für die Jugendämter selbst wird ein Regelwerk gefordert, das objektivierte Maßstäbe für die Bewertung von Kindeswohlgefährdungen aufstellt und so den Jugendämtern eine in der Praxis handbare Bewertungsrichtlinie an die Hand gibt.

Hier hätte sie aber zum Handeln gereicht

Wenn - wie im Fall Lenzkirch – Ärzte mehrfach verdächtige Verletzungen eines Kindes feststellen, ausdrücklich vor der Rückkehr eines Kindes in die Familie warnen und dann noch zur Ultima Ratio greifen, indem sie selbst Strafanzeige wegen der Verletzung des Kindes erstatten, dann müssten allerdings auch nach der derzeitigen Rechtslage bei dem zuständigen Jugendamt sämtliche Warnsysteme gleichzeitig anspringen.

Angesichts dieser Bedrohungslage ein Kind immer wieder in die Obhut des Peiniger zurückzugeben, zeugt von hoher Ignoranz und ist für niemanden mehr verständlich. Dies gilt in gleichem Maße für die nachträgliche Selbsteinschätzung, alles richtig gemacht zu haben.

Gutachter bescheinigte dem Jugendamt schwere Versäumnisse

Der vom Landkreis beauftragte Gutachter bescheinigte dem Jugendamt Anfang 2016 dem Jugendamt schwere Versäumnisse. Der Kreis kündigt an, Jugendhilfe und Kinderschutz sowie die Arbeit der Behörde zu verbessern. Letztlich musste der für Alessio zuständige Sachbearbeiter im Jugendamt Aufgrund eines Strafbefehls wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen eine Geldstrafe in Höhe von drei Nettomonatsgehältern zahlen und wurde in einen anderen Bereich versetzt. Verantwortliche des Jugendamtes und des zuständigen Landratsamtes, gegen die insgesamt 13 Strafanzeigen gestellt wurden, gingen straffrei aus.

Schlagworte zum Thema:  Kindeswohl, Sorgerecht