Wann kommt eine Verwirkung des Kindesunterhalts in Betracht?

Kindesunterhalt kann unter bestimmten Umständen verwirkt sein. Dies kommt ausnahmsweise wegen Verfehlungen des Kindes in Betracht. Häufiger ist der Fall der Verwirkung nach § 242 BGB: Zeitablauf und das Verhalten des Unterhaltsberechtigten können das Vertrauen des Unterhaltsverpflichteten rechtfertigen, dass der Unterhaltsanspruch nicht mehr geltend gemacht wird.

Ausgangspunkt der Verwirkung ist der Schuldnerschutz und - bei der Verwirkung durch Zeitablauf - der  Umstand, dass davon auszugehen ist, dass der Unterhaltsgläubiger auf die Unterhaltsleistung, die seinen Lebensbedarf decken soll, so angewiesen ist, dass er die Durchsetzung seiner Unterhaltsansprüche zügig betreibt.

Verwirkung wegen sittlichen Verschuldens des Kindes

Verfehlungen des volljährigen Kindes können den Anspruch auf Unterhalt ganz oder teilweise entfallen lassen. Gem. § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB muss der Verpflichtete nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe leisten, welcher der Billigkeit entspricht, wenn der Unterhaltsberechtigte

  • durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist,
  • er seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt hat oder
  • sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat.

Die Verpflichtung zum Unterhalt fällt gem. § 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre.

Bis zum Erreichen der Volljährigkeit nicht relevant

Die Verwirkung nach § 1611 BGB spielt beim Kindesunterhalt in der Praxis keine große Rolle. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass minderjährige Kinder ihren Unterhaltsanspruch gem. § 1611 Abs. 2 BGB nicht verwirken können. Daher sind auch Verfehlungen in der Zeit der Minderjährigkeit für den Anspruch des volljährigen Kindes unbeachtlich. Allein entscheidend ist, wann der Verwirkungstatbestand eingetreten ist.

Auf privilegierte Volljährige, also solche, die das 21. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, findet die Vorschrift des § 1611 Abs. 2 BGB keine Anwendung (KG Berlin, Beschluss v. 27.1.2016, 13 UF 234/14). Sie können durch Verfehlungen den Unterhaltsanspruch zu Fall bringen.

Verwirkung nach § 1611 BGB greift auch bei älteren Kindern nur in schweren Ausnahmefällen

Wegen der tiefgreifenden Rechtsfolgen der Verwirkung ist die Annahme einer Anspruchsverwirkung nach allgemeiner Auffassung auch bei volljährigen Kindern auf besonders schwere Ausnahmefälle zu beschränken, zu deren Feststellung überdies eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene, umfassende Abwägung unter Einbeziehung der Umstände von Trennung und Scheidung der Kindeseltern und der sich hieraus ergebenden Eltern-Kind-Beziehung zu erfolgen hat (BGH, Urteil v. 25.1.1995, XII ZR 240/93).

Von der Rechtsprechung anerkannte Verwirkungsfälle

In folgenden Fällen hat die Rechtsprechung z.B. eine Verwirkung beim Kindesunterhalt angenommen:

  • Lebensführung des Kindes mit Inkaufnahme von Risiken auf Kosten der Eltern (ziellose Fortführung des Studiums, Arbeit ohne soziale Absicherung) (OLG Hamm, Urteil v. 19.10.2001, 11 UF 36/01),
  • Verschweigen der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit neben dem Studium (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss v. 10.10.2008, 1 UF 121/08),
  • Verschweigen des Abbruches der Schulausbildung und weitere Entgegennahme von Unterhaltszahlungen (OLG Köln, Urteil v. 20.4.2004, 4 UF 229/03),
  • versuchter Prozessbetrug (hier, indem das Kind über längere Zeit gezahlte Berufsausbildungsbeihilfe des Arbeitsamtes nach AFG § 40 als eigenes Einkommen verschwiegen hat OLG Hamm, Urteil v. 12.1.1995, 1 UF 355/94),
  • bewusste falsche Strafanzeige gegen den Vater gestützt auf den Vorwurf der Nötigung im Straßenverkehr (Verwirkung des Unterhaltsanspruchs um 2/3, OLG Hamm, Urteil v. 21.12.2005, 11 UF 218/05),
  • wiederholte, schwerwiegende Beleidigungen, die eine tiefgreifende Verachtung des Unterhaltsverpflichteten bzw. seines Ehegatten erkennen lassen (OLG Hamm, Urteil v. 21.12.2005, 11 UF 218/05).

Häufiger relevant: Verwirkung nach § 242 BGB

Ein nicht geltend gemachter Unterhaltsanspruch kann grundsätzlich schon vor Eintritt der Verjährung verwirken (§ 242 BGB). Grund: Von einem Unterhaltsgläubiger, der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen ist, ist eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen zu erwarten, dass er sich zeitnah um die Durchsetzung seines Anspruchs bemüht (BGH, Urteil v. 13.1.1988, IVb ZR 7/87). Rückständiger Unterhalt kann daher grundsätzlich der Verwirkung unterliegen, wenn sich seine Geltendmachung unter dem Gesichtspunkt illoyal verspäteter Rechtsausübung als unzulässig darstellt, dies gilt sowohl für nicht titulierte als auch für titulierte Unterhaltsansprüche (BGH, Beschluss v. 16.6.1999, XII ZA 3/99.

Voraussetzung sind Vorliegen eines Zeit- und Umstandsmoments

Eine Verwirkung nach § 242 BGB erfordert das Vorliegen eines Zeit- und Umstandsmoments. Dabei sind die Gründe, die eine mögliche zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt nahelegen so gewichtig, dass das Zeitmoment der Verwirkung bereits erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen, die etwas mehr als 1 Jahr zurückliegen.

Kalenderblaetter auf Tisch

Nach § 1585b Abs. 3, § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB findet der Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes bei Unterhaltsrückständen für eine mehr als 1 Jahr zurückliegende Zeit besondere Beachtung. Daher kann der Ablauf einer Frist von mehr als einem Jahr ausreichen für die Bejahung des Zeitmoments.

Rechtsprechung des BGH zur Unterhaltsverwirkung

Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH müssen zum reinen Zeitablauf aber besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde seinen Anspruch nicht mehr geltend machen (BGH, Urteil v. 23.10.2002, XII ZR 266/99) = Umstandsmoment.

Das Umstandsmoment ist nicht schon erfüllt, wenn der Anspruch nur nicht geltend gemacht wird. Dies löst für sich genommen kein berechtigtes Vertrauen des Schuldners aus. Dies gilt nicht nur, wenn der Gläubiger bloß untätig ist, sondern grundsätzlich auch, wenn er es unterlässt, eine bereits begonnene Geltendmachung fortzusetzen (BGH, Beschluss v. 31.1.2018, XII ZB 133/17). Die Verwirkung nach § 242 BGB kommt demnach nur dann in Betracht,

  • wenn Unterhaltsansprüche länger als ein Jahr nicht geltend worden sind, obwohl der Berechtigte dazu in der Lage gewesen wäre,
  • und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde.

Verwirkung nach § 242 BGB  kommt trotz Hemmungstatbestand gem. § 207 BGB in Betracht

Einer Verwirkung nach § 242 BGB steht die Regelung des § 207 BGB nicht entgegen. Auch wenn dem Anspruchsinhaber im Rahmen der Verjährung ein gesetzlicher Hemmungstatbestand zugutekommt (§ 207 BGB), steht dies einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nicht entgegen.

Die gesetzlichen Hemmungstatbestände beziehen sich auf das Verjährungsrecht und sind wie die Verjährung im Allgemeinen nur für die Frage bedeutsam, ob die Durchsetzbarkeit eines Anspruchs allein aus Zeitgründen scheitert. Die Verjährung und Verwirkung beruhen auf unterschiedlichen Grundlagen, sodass der Verwirkung der Hemmungstatbestand des § 207 BGB nicht entgegensteht (BGH, Beschluss v. 31.1.2018, XII ZB 133/17).

Aus: Deutsches Anwalt Office Premium

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Normen:

§ 207 Hemmung der Verjährung aus familiären und ähnlichen Gründen
(1) 1Die Verjährung von Ansprüchen zwischen Ehegatten ist gehemmt, solange die Ehe besteht. 2Das Gleiche gilt für Ansprüche zwischen 
1.  Lebenspartnern, solange die Lebenspartnerschaft besteht,
2. dem Kind und 
a) seinen Eltern oder
b) dem Ehegatten oder Lebenspartner eines Elternteils
bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Kindes,
3. dem Vormund und dem Mündel während der Dauer des Vormundschaftsverhältnisses,
4. dem Betreuten und dem Betreuer während der Dauer des Betreuungsverhältnisses und
5. dem Pflegling und dem Pfleger während der Dauer der Pflegschaft.
3 Die Verjährung von Ansprüchen des Kindes gegen den Beistand ist während der Dauer der Beistandschaft gehemmt.
(2) § 208 bleibt unberührt.

§ 208 Hemmung der Verjährung bei Ansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung

Die Verjährung von Ansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung ist bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs des Gläubigers gehemmt. 2Lebt der Gläubiger von Ansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung bei Beginn der Verjährung mit dem Schuldner in häuslicher Gemeinschaft, so ist die Verjährung auch bis zur Beendigung der häuslichen Gemeinschaft gehemmt.

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Hintergrund: Verwirkung ist von Amts wegen zu berücksichtigen

Im Gegensatz zur Verjährung, auf die sich der in Anspruch Genommene ausdrücklich berufen muss, ist die Verwirkung von Amts wegen zu berücksichtigen (BGH, Urteil v. 10.11.1965, Ib ZR 101/63, NJW 1966 S. 343, 345).

Schlagworte zum Thema:  Kindesunterhalt, Verwirkung