EuGH-Verfahren zu Hadopi

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) nach den Schlussanträgen das Verfahren zur mündlichen Verhandlung wiedereröffnet, anstatt ein Urteil zu fällen.

Die Inhalte im „Hadopi-Verfahren“ (Rechtssache C-470/21) sind aber von einer solchen Brisanz, dass sich nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Maciej Szpunar nun sogar alle 27 Richter am EuGH, das sog. „Plenum“, der Sache angenommen haben. Mit Entscheidung vom 23. März 2023 wurde die mündliche Verhandlung wiedereröffnet, die Verhandlungen fanden am 15. Und 16. Mai 2023 statt. 

Französische Behörde will für die Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen IP-Adressen mit weiteren Daten über die Identität einer Person zusammenführen

Hintergrund des Rechtsstreits ist eine Klage von vier Vereinigungen gegen die französische Behörde „Hadopi“ (Haute Autorité pour la diffusion des oeuvres et la protection des droits sur l’Internet; inzwischen aufgegangen in der Behörde „Arcom“). Die Behörde verfolgt Urheberrechtsverletzungen im Internet, insbesondere durch illegales Filesharing. Die Vereinigungen, darunter „La Quadrature du Net“, eine französische NGO, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt, stellen das Verfahren in Frage, mit der die Hadopi IP-Adressen, die mit Urheberrechtsverletzungen im Zusammenhang stehen, mit weiteren Informationen über die Identität von Personen zusammenführt. Die Zusammenführung erfolgt, um die Verletzer in einem dreistufigen Verfahren zu ermahnen, ggf. Bußgelder zu erheben und von weiteren Verstößen abzuhalten.

Nationales Recht zur Vorratsdatenspeicherung muss sich am Unionsrecht messen lassen

Im hiesigen Fall geht es laut Generalanwalt Spzunar um die Frage, ob die Vorratsdatenspeicherung durch Anbieter von Kommunikationsdiensten zulässig sein kann, wenn die Daten allein zu dem Zweck aufbewahrt werden, sie zuständigen nationalen Behörden zugänglich zu machen. Eine nationale Regelung, die den Zugang von nationalen Behörden zu personenbezogenen, auf Vorrat gespeicherten Daten erlaubt, ist demnach nur zulässig, wenn sie mit dem Unionsrecht zu vereinbaren ist.

EuGH hat in der Vergangenheit die Vorratsdatenspeicherung als überwiegend unzulässig eingestuft

Der EuGH hat in der Vergangenheit die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen als schweren Eingriff in Art. 7 und Art. 8 der Europäischen Grundrechtecharta, die sich auf den Schutz der Privatsphäre beziehen, eingestuft. Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung allein der IP-Adresse als Quelle einer Verbindung verstößt aber nicht grundsätzlich gegen die Grundrechte-Charta, wenn die Möglichkeit hierzu von materiellen und prozeduralen Voraussetzungen abhängig gemacht wird.

Laut EuGH ist nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet, diesen Eingriff zu rechtfertigen. Die nationalen Vorschriften müssen dabei insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta wahren. Ein Zugang zu diesen Daten muss außerdem einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterworfen werden.

Konfligierende Rechtsprechung zum Urheberrecht und zur Vorratsdatenspeicherung

In einer anderen Rechtsprechungslinie zum Urheberrecht hat der EuGH aber auch festgestellt, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, eine Verpflichtung zur Weitergabe personenbezogener Daten an Privatpersonen zu schaffen, um die Verfolgung von Urheberrechtsverstößen zivilgerichtlich zu ermöglichen.

Der Generalanwalt stellt sodann fest, dass eine gewisse Spannung zwischen den Rechtsprechungslinien zum Urheberrecht und zur Vorratsdatenspeicherung besteht. Die Interessen im Zusammenhang mit dem Schutz der Rechte des geistigen Eigentums decken sich nicht mit denen zur Bekämpfung schwerer Kriminalität. Der Begriff „schwere Kriminalität“ ist unionsweit einheitlich auszulegen und umfasst nicht den Schutz der Rechte des geistigen Eigentums.

Andererseits ist die Speicherung von IP-Adressen und deren Zusammenführung mit zugehörigen Personenbezogenen Daten das wichtigste, gar das einzige, Mittel, um Verletzer von Urheberrechten im Internet auszumachen.

Möglichkeit der Aufweichung der Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung, um die Straflosigkeit von ausschließlich im Internet begangenen Strafteten zu verhindern

Sollte der EuGH zum Ergebnis kommen, dass die durch Hadopi in Anspruch genommene Vorratsdatenspeicherung unzulässig ist, könnte dies dazu führen, dass eine de-facto Straflosigkeit für ausschließlich im Internet begangene Straftaten eintritt. Ohne Erfassung der IP-Adresse und deren Zusammenführen mit dem jeweiligen Internetinhaber ist es nicht möglich, die eine Urheberrechtsverletzung, wie beispielsweise illegales Filesharing von Filmen, zu verfolgen.   

EuGH-Generalanwalt will auch Verfolgung anderer Online-Kriminalität ermöglichen

Nicht nur Rechte am geistigen Eigentum sollen nach Ansicht des Generalanwalts im Internet geschützt werden können, sondern auch Straftaten wie Online-Verleumdung. Die strenge Rechtsprechung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung könnte auch in Fällen von sog. Hate-Speech im Internet zu einer faktischen Straflosigkeit führen.

Vorschlag des Generalanwalts, die Rechtsprechungslinie zur Vorratsdatenspeicherung anzupassen

Der Generalanwalt Szpunar schlägt daher vor, künftig zu unterscheiden zwischen Vorratsdatenspeicherung, die zu einem besonders schwerwiegenden Eingriff in das Privatleben der Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste führt, und solcher, die darauf beschränkt ist, nur die Identitätsdaten mit einer verwendeten IP-Adresse und einer zu einem konkreten Zeitpunkt aufgerufenen Datei zu ermitteln. Wenn letzterer Fall nicht dazu führt, dass eine zuständige Behörde das Verhalten der Person im Internet, z.B. besuchte Seiten, nachzuverfolgen, können keine nennenswerten Schlüsse auf das Privatleben gezogen werden. In dem Fall solle der Eingriff auch nicht als besonders schwerwiegend beurteilt werden.

Entscheidung des Plenums bleibt abzuwarten

Wie die 27 Richter des EuGH letztlich entscheiden werden, bleibt abzuwarten. Nachzuvollziehen ist grundsätzlich die Argumentation des Generalanwalts, dass bestimmte Straftaten im Internet nicht de-facto straflos sein dürfen. Ein Aufweichen der strengen Vorgaben um die Vorratsdatenspeicherung kann aber zu erheblichen Konsequenzen für Internetnutzer führen. Es ist davon auszugehen, dass in dem Fall die Mitgliedstaaten vermehrt von entsprechenden Ausnahmen und Möglichkeiten Gebrauch machen werden.


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