[5] … “II. 1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts sind die vorgerichtlich entstandenen 22 Geschäftsgebühren auf die Verfahrensgebühr gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG anzurechnen. Die Geschäftsgebühren seien wegen desselben Gegenstands entstanden wie die Verfahrensgebühr. Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit der Klägerin sei die Regulierung von materiellen Schadensersatzansprüchen der Zedentin aus 22 Verkehrsunfällen gegen die hinter den Schadensverursachern als Haftpflichtversicherung stehende Beklagte. Zu diesen Ansprüchen gehörten nach § 249 BGB auch die Kosten der Rechtsverfolgung. Eben diese Kosten – und damit ein Teil des Schadens aus den Verkehrsunfällen – seien mit der anschließenden Klage gegen die Beklagte eingeklagt worden. Die von der Klägerin entfaltete außergerichtliche Tätigkeit betreffe daher hinsichtlich der Kosten der Rechtsverfolgung dieselben rechtlichen und tatsächlichen Punkte wie die spätere gerichtliche Geltendmachung. Ein rein formales Abstellen auf einen geänderten Streitwert überzeuge hingegen nicht, weil dies der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung und dem Sinn und Zweck der Anrechnungsvorschrift, dass ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand habe, nicht gerecht werde. Die Anrechnung führe dazu, dass die Verfahrensgebühr gänzlich entfalle. Denn alle Geschäftsgebühren seien in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen. Die Beklagte könne sich auch nach § 15a Abs. 2 Fall 1 RVG a.F. auf die Anrechnung berufen. Sie habe die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren unstreitig bezahlt und den diesbezüglichen Anspruch damit erfüllt.

[6] 2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand. Das Beschwerdegericht hat die vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühren zu Recht anteilig auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet mit der Folge, dass diese vollständig aufgezehrt worden ist. Die Beklagte kann sich auch gemäß § 15a Abs. 2 Fall 1 RVG a.F. auf die Anrechnung berufen.

[7] a) Nach der Regelung in Vorbem. 3 Abs. 4 Satz 1 VV RVG wird die wegen desselben Gegenstands entstandene Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet, bei Wertgebühren jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75. Bei einer wertabhängigen Gebühr erfolgt nach Vorbem.3 Abs. 4 Satz 5 VV RVG in der bis 31.12.2020 geltenden Fassung vom 23.7.2013 (nachfolgend: a.F.; entspricht Vorbem. 3 Abs. 4 Satz 4 VV RVG) die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens.

[8] b) Das Beschwerdegericht hat zu Recht angenommen, dass die Geschäftsgebühren wegen desselben Gegenstands im Sinne von Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 zu Nr. 3100 VV RVG entstanden sind wie die Verfahrensgebühr.

[9] aa) Der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit im kostenrechtlichen Sinn wird durch das Recht oder das Rechtsverhältnis definiert, auf das sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Rahmen des ihm von seinem Mandanten erteilten Auftrags bezieht. Dabei ist keine formale, sondern eine wertende Betrachtungsweise angezeigt und auf die wirtschaftliche Identität abzustellen. Die Frage, ob eine vorgerichtliche anwaltliche Tätigkeit und die anschließende Klage in diesem Sinne denselben Gegenstand gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG betreffen, ist daher anhand einer wirtschaftlichen Betrachtung zu entscheiden (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2007 – VIII ZR 184/06, AGS 2007, 289 = RVGreport 2007, 220 (Hansens); Beschl. v. 2.10.2008 – I ZB 30/08, RVGreport 2008, 470 (Ders.), juris Rn 11; v. 29.11.2011 – XI ZB 16/11, zfs 2012, 163, Rn 8 m. Anm. Hansens = AGS 2012, 227 = RVGreport 2012, 72 (Ders.); v. 20.12.2011 – XI ZB 17/11, NJW-RR 2012, 313 Rn 9 = AGS 2012, 223 = RVGreport 2012, 118 (Ders.); vgl. Enders in Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl., § 2 Rn 2; Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl., § 2 RVG Rn 6). Denn die Anrechnungsbestimmungen von Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG, § 15a Abs. 1 RVG finden ihren Grund in dem geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand, den ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt hat (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 209; BGH, Urt. v. 7.12.2022 – VIII ZR 81/21, ZIP 2023, 531 Rn 33 = JurBüro 2023, 386; v. 14.3.2007 – VIII ZR 184/06, AGS 2007, 289 = RVGreport 2007, 220 (Hansens); Beschl. v. 20.12.2011 – XI ZB 17/11, NJW-RR 2012, 313 Rn 9 = AGS 2012, 223 = RVGreport 2012, 118 (Ders.)).

[10] bb) Gemessen an diesen Grundsätzen war Gegenstand der von der Klägerin vorgerichtlich entfalteten anwaltlichen Tätigkeit die Regulierung der der Leasinggesellschaft infolge der Beschädigung ihrer Fahrzeuge entstandenen Sachschäden einschließlich der dadurch entstehenden Rechtsanwaltskosten gegenüber der Beklagten.

[11] (1) Der dem Geschädigten wegen Beschädigung einer Sache nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB zustehende Schadensersatz umfasst grundsätzlich auch den Ersatz der zur Durchsetzung dieses Anspruchs erforderlichen ...

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