Bescheidänderung wegen irriger Sachverhaltsbeurteilung

Eine Bescheidänderung ist auch dann möglich, wenn das FA bei Erlass des ursprünglichen Bescheids wissentlich ("aus Vereinfachungsgründen") fehlerhaft gehandelt hat. 

Hintergrund: fehlerhafte Festsetzung aus Praktikabilitätserwägungen

Die Entscheidung befasst sich mit der Frage, ob bei einer zunächst bewusst falschen rechtlichen Beurteilung eine Korrektur wegen irriger Sachverhaltsbeurteilung nach § 174 Abs. 4 AO noch möglich ist. A erhielt in 2005 KiSt-Erstattungen, die aus Überzahlungen in 2000 bis 2003 resultieren. Mangels ausreichender in 2005 gezahlter KiSt entstand ein Erstattungsüberhang. Diesen verrechnete das FA "aus Vereinfachungsgründen" mit der in 2004 gezahlten KiSt und änderte in 2009 den ESt-Bescheid 2004. Den danach noch verbleibenden Erstattungsüberhang verrechnete das FA mit den KiSt-Zahlungen aus 2003. Die Klage gegen den KiSt-Bescheid 2004 hatte Erfolg. Das FG entschied, Erstattungsüberhänge bei der KiSt könnten nicht in das jüngste Zahlungsjahr zurückgetragen werden, sondern seien dem jeweiligen Zahlungsjahr zuzuordnen. Damit durften in 2004 nur noch Übererstattungen von 11.200 EUR als die Sonderausgaben mindernd verrechnet werden. 

Das FA änderte daraufhin in 2011 den ESt-Bescheid 2004 entsprechend den Vorgaben des FG. Die nunmehr nicht berücksichtigten Erstattungsüberhänge übertrug das FA auf die weiteren Zahlungsjahre und änderte in 2012 die ESt-Bescheide 2000 bis 2003 zu Ungunsten der A, da die als Sonderausgaben abziehbaren KiSt-Beträge sich um die Erstattungen kürzten. Die gegen die geänderten Bescheide 2000 bis 2003 gerichtete Klage hatte Erfolg. Das FG befand, der Eintritt der Festsetzungsverjährung zum 31.12.2011 sei nicht durch § 174 Abs. 4 AO gehindert worden, da das FA bei der Änderung des Bescheids 2004 nicht geirrt, sondern gewusst habe, dass die Verrechnung in 2004 rechtlich nicht zulässig gewesen sei. 

Entscheidung: "irrige Beurteilung" auch bei bewusst fehlerhafter Festsetzung

Der BFH widerspricht dem FG und wies die Klage ab. Nach § 174 Abs. 4 AO können, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines Sachverhalts ein Bescheid ergangen ist, der u.a. aufgrund eines Rechtsbehelfs geändert wird (hier ESt 2004), aus dem Sachverhalt nachträglich durch Änderung eines Bescheids (hier 2000 bis 2003) die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Das gilt nicht nur, wenn sich die Sachverhaltsbeurteilung nachträglich als unrichtig herausstellt, sondern auch dann, wenn dem FA bereits bei Erlass des Bescheids dessen Fehlerhaftigkeit bekannt war. Der BFH hat bereits früher entschieden, dass eine Bescheidänderung wegen irriger Sachverhaltsbeurteilung in einem anderen Bescheid nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil das FA insoweit vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat (BFH, Urteil v. 10.5.2012, IV R 34/09, BStBl II 2013 S. 471). Der BFH setzt diese Rechtsprechung fort und weist die in einem Teil des Fachschrifttums und der Finanzgerichtsbarkeit dagegen erhobenen Bedenken zurück. Entscheidend ist der Zweck der Regelung, den Steuerpflichtigen bei einem Obsiegen in einem gewissen Rechtsstandpunkt an seiner Auffassung festzuhalten, soweit derselbe Sachverhalt für einen anderen Bescheid zu beurteilen ist. Die Änderung der Bescheide 2000 bis 2003 verstößt im Streitfall auch nicht gegen Treu und Glauben. Das FA hat seine Änderungsmöglichkeit nicht etwa aufgrund eines entsprechenden vertrauensbegründenden Verhaltens verwirkt. 

Hinweis: Grundsatz von Treu und Glauben

Das Ziel, den Steuerpflichtigen im Falle seines Obsiegens an seinem Rechtsstandpunkt festzuhalten, entspricht Treu und Glauben. § 174 Abs. 4 AO ist eine besondere Ausformung dieses Grundsatzes. Würde man - mit einigen Stimmen im Schrifttum - die Änderungsmöglichkeit nur zulassen, wenn das FA subjektiv der Auffassung war, nicht rechtswidrig zu handeln, ergäben sich erhebliche praktische Schwierigkeiten hinsichtlich der Feststellung der vom FA vertretenen Auffassung. Im Streitfall war in den Akten für 2000 bis 2003, nicht aber in der relevanten Akte für 2004, eine OFD-Verfügung über die zutreffende Zuordnung der Erstattungen enthalten (OFD Koblenz v. 11.4.2005, S 2221 A - St 32 3). Es blieb jedoch unklar, ob diese Verfügung dem FA in dem vorgelagerten Rechtsbehelfsverfahren für 2004 bereits bekannt war. Außerdem hatte das FA in dem Verfahren hinsichtlich des Bescheids 2004 die Auffassung vertreten, die Rückübertragung in das jüngste Zahlungsjahr sei aus Vereinfachungsgründen geboten. Dazu lässt sich kaum sagen, dass diese Auffassung aus Praktikabilitätsgründen unter keinen Umstünden vertretbar gewesen wäre. Unter dem Az.: X R 4/15 ist eine Parallelsache anhängig (FG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.10.2014, 5 K 4719/10, n. v.). 

BFH, Urteil v. 25.10.2016, X R 31/14, veröffentlicht am 18.1.2017



Schlagworte zum Thema:  Abgabenordnung, Kirchensteuer, Verrechnung