Kindergeld bei Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten

Ein Zusammentreffen von Leistungsansprüchen i.S. des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der im Inland lebende Elternteil nach Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 dem deutschen Recht unterliegt, wenn der andere Elternteil unter die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats fällt, dort aber selbst keinen Familienleistungsanspruch hat.

Hintergrund: Zusammentreffen von Ansprüchen nach deutschem und polnischem Recht

Die (geschiedenen) Eltern der Tochter (J) sind polnische Staatsangehörige. Die Mutter (M) wohnte im Streitzeitraum im Inland, der Vater (V) in Polen. J wohnte zunächst in Deutschland und anschließend in Polen.

Die Familienkasse lehnte eine Kindergeldfestsetzung für J ab. Ein Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld sei ausgeschlossen, da beide Elternteile weder eine Erwerbstätigkeit ausübten noch eine Rente bezögen und deshalb ein Anspruch auf Familienleistungen nur im Wohnsitzland des Kindes (Polen) bestehe (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004).  

Das FG gab der Klage statt. V stehe kein vorrangiger Anspruch zu. Bei Nichtbestehen eines polnischen Anspruchs bestehe keine Anspruchskonkurrenz. Die Prioritätsregel nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 greife daher nicht ein, so dass für M der Anspruch nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sei.

Entscheidung: Dem in Deutschland lebenden Elternteil könnte für das im EU-Ausland lebende Kind ein Anspruch nach ausländischem Recht zustehen

Der BFH widerspricht dem FG und verwies die Sache an das FG zurück. Das FG ging davon aus, dass auf M ausschließlich deutsches Recht anwendbar ist. Im Streitfall ist jedoch auch zu prüfen, ob dem im Inland lebenden Elternteil (M) ein Anspruch im anderen Mitgliedstaat (Polen) zusteht. In diesem Fall würde eine Anspruchskonkurrenz i.S.v. Art. 68 Abs. 2 VO 883/2004 bestehen. Zur Klärung dieser Frage wies der BFH die Sache an das FG zurück.

M erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach deutschem Recht

M hatte einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG). J ist als leibliches Kind berücksichtigungsfähig (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Sie hatte zunächst einen Wohnsitz im Inland und anschließend in Polen/EU-Mitgliedstaat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Außerdem erfüllte sie auch die Berücksichtigungsvoraussetzungen für volljährige Kinder, da sie sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemühte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und diese Ausbildung auch durchführte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).

Nach der Familienbetrachtung ist auf M auch das polnische Recht anwendbar

M unterliegt nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland. V unterlag aufgrund seines Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen, da er im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging. Allerdings gilt für den Bereich der Familienleistungen die Sonderregelung des Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004. Danach hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.

Der zur Anwendung dieser Bestimmung erlassene Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung) enthält zudem eine Familienbetrachtung. Danach ist die Situation der gesamten Familie so zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Diese Bestimmung betrifft sowohl Leistungen nach vorrangigen Regelungen als auch Leistungen eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form von Differenzgeld (BFH v. 1.7.2020, III R 22/19, BFH/NV 2021, 134). Demnach ist (entgegen der Annahme des FG) nicht nur zu fingieren, dass M in Polen wohnt, sondern auch, dass sie (wie V) unter die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen fällt.

Anwendung der Prioritätsregel

Sollte V nach Beendigung seiner Erwerbstätigkeit z.B. Kranken- oder Arbeitslosengeld bezogen haben, wäre die Zuständigkeit Polens durch eine Beschäftigung begründet (Beschluss Nr. F1 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Europäische Gemeinschaft vom 12.6.2009). Damit wäre auch der Anspruch in Polen als durch die Beschäftigung ausgelöst anzusehen (BFH v. 1.7.2020, III R 22/19, BFH/NV 2021, 134, Rz 18). Der Anspruch in Polen wäre dann gegenüber dem nur durch den Wohnort ausgelösten Anspruch in Deutschland vorrangig (Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004) und ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland wäre ausgeschlossen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004). Wäre der Anspruch in Polen dagegen nur durch den Wohnort des V ausgelöst, wäre dieser nachrangig, soweit J ihren Wohnsitz in Deutschland hatte (Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Doppelbuchst iii VO Nr. 883/2004). Für die Zeit danach wäre dagegen der Anspruch in Polen vorrangig, da J in Polen wohnte. Ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland würde für diese Zeit gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 ausscheiden.

Hinweis: Beurteilung der ausländischen Ansprüche

Der BFH hebt hervor, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des deutschen Gerichts ist, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach ausländischem Recht zu beurteilen, wenn hierüber bereits eine Bescheinigung einer Behörde im EU-Ausland vorliegt, der nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit Bindungswirkung für die nationalen Behörden und Gerichte zukommt (BFH v. 22.2.2018, III R 10/17, BStBl II 2018, 717). Im Streitfall bestanden allerdings erhebliche Unklarheiten hinsichtlich der von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Polen (DOPS) ausgestellten Bescheinigung, dass V keine Familienleistungen in Polen bezog.

BFH Urteil vom 18.02.2021 - III R 71/18 (veröffentlicht am 20.05.2021)

Alle am 20.05.2021 veröffentlichten Entscheidungen des BFH.

Schlagworte zum Thema:  Kindergeld, Europäische Union