Leitsatz

1. Eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung des Kindes für seine mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt genügt für den Kindergeldanspruch nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes auch dann, wenn es nach § 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist (Abgrenzung zum Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 30.04.2014 – XI R 24/13, BFHE 245, 66, BStBl II 2014, 1014).

2. Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit vorliegt, hat das Finanzgericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles zu treffen, die vom BFH nur eingeschränkt überprüfbar ist.

3. Indizien für eine fortwirkende erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt können sich aus dem Straf- beziehungsweise Sicherungsverfahren ergeben. Zu berücksichtigen sein kann namentlich, dass eine seelische Erkrankung des Kindes, welche zugleich die vor dem 25. Lebensjahr eingetretene Behinderung darstellt, dazu geführt hat, dass dem Kind wegen der von ihm begangenen rechtswidrigen Taten kein Schuldvorwurf gemacht werden kann (§ 20 StGB).

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 EStG, § 20, § 63 StGB, § 126a, §§ 413 ff. StPO

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist die Mutter eines 1999 geborenen Sohnes S, der seit seinem 14. Lebensjahr an einer hebephrenen Schizophrenie leidet. 2016 wurde deswegen ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt. Während seines Aufenthalts in einer Klinik und einer Jugendeinrichtung beging S rechtwidrige Gewalttaten gegenüber dem Pflegepersonal. Bei den rechtswidrigen Körperverletzungen handelte S nach der Überzeugung des Strafgerichts jeweils ohne Schuld, weil seine Steuerungsfähigkeit infolge der schizophrenen Erkrankung aufgehoben gewesen sei. Das Gericht ordnete gemäß § 63 StGB die Unterbringung des S in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung auf, da S nicht wegen seiner Behinderung, sondern wegen seiner Unterbringung unfähig zum Selbstunterhalt sei. Das FG gab der Klage statt (FG Hamburg, Urteil vom 26.10.2022, 5 K 181/19, Haufe-Index 15519717, EFG 2023, 190).

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück. Das FG habe in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass trotz der Unterbringung des S eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt fortbestanden habe.

 

Hinweis

1. Der Kindergeldanspruch für behinderte Kinder erfordert nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, dass das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Da die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt "wegen" der Behinderung bestehen muss, ist ein Kausalzusammenhang zwischen der Behinderung und der mangelnden Selbstunterhaltsfähigkeit zu prüfen.

2. An diesem Kausalzusammenhang kann es fehlen, wenn das behinderte Kind aus anderen Gründen als der Behinderung an einer seinen Lebensunterhalt sichernden Erwerbstätigkeit gehindert ist. Hat z. B. das behinderte Kind eine Berufsausbildung absolviert, findet es aber wegen einer angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt keine Beschäftigung, steht es nicht anders da als ein nicht behindertes Kind. Die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt wird nicht durch die Behinderung, sondern den allgemeinen Mangel an Arbeitsplätzen verursacht. Allerdings reicht eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung aus. Ist das Kind z. B. wegen der Behinderung nur in der Lage, einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen, kann die Behinderung – trotz schwieriger Arbeitsmarktlage – erheblich mitursächlich für die Arbeitslosigkeit und die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt sein.

3. Befindet sich das behinderte Kind wegen einer Straftat in Strafhaft, löst die Strafhaft einen neuen Verursachungszusammenhang aus. Während der Haft ist das Kind unabhängig davon, ob es behindert ist oder nicht, grundsätzlich außerstande, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit steht nicht die Behinderung des Kindes der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts entgegen, sondern die Inhaftierung.

4. Ist das Kind dagegen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu differenzieren. Anders als bei der Strafhaft entfällt die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung nicht zwangsläufig. Hier kommt es insbesondere auf die Umstände an, die zu der freiheitsentziehenden Maßnahme geführt haben. Dabei können die Ergebnisse des Strafverfahrens bzw. Sicherungsverfahrens herangezogen werden. Hat das Kind die rechtswidrige Tat wegen der vor dem 25. Lebensjahr eingetretenen Behinderung begangen und wird es wegen Schuldunfähigkeit nicht verurteilt, liegt darin ein gewichtiges Indiz für eine – trotz der Unterbringung – fortwirkende erhebliche Mitursächlichkeit der B...

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