Leitsatz

Es wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG i.d.F. des AbzStEntModG vom 02.06.2021 (BGBl I 2021, 1259) gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt, soweit diese Vorschrift die rückwirkende Anwendung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG i.d.F. des AbzStEntModG für Wirtschaftsjahre anordnet, die nach dem 31.12.1998 beginnen.

 

Normenkette

§ 5a Abs. 4 Sätze 3 bis 6, § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG i.d.F. des AbzStEntModG, § 5a Abs. 4 EStG, § 60 Abs. 3 FGO, § 174 Abs. 5 Satz 2, § 176 Abs. 2, § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO, Art. 20 Abs. 3, Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG

 

Sachverhalt

Die Klägerin erwarb ihre Kommanditanteile an der C-GmbH & Co. KG, einer Schifffahrtsgesellschaft, durch Schenkungen in den Jahren 2003 und 2007. Seitdem wurde der festgestellte Unterschiedsbetrag i.S.d. § 5a Abs. 4 EStG bei ihr als Rechtsnachfolgerin i.H.v. 50.000 EUR fortgeführt. Im Streitjahr 2013 veräußerte die Schifffahrtsgesellschaft ihr Schiff. In dem für die Schifffahrtsgesellschaft unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Gewinnfeststellungsbescheid für 2013 rechnete das FA den laufenden Einkünften der Klägerin einen nach § 5a Abs. 4 Satz 3 EStG (a.F.) aufgelösten Unterschiedsbetrag i.S.d. § 5a Abs. 4 Satz 1 EStG i.H.v. 50.000 EUR hinzu. Im Dezember 2018 beantragte die Klägerin die Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids mit dem Ziel, ihr den aufgelösten Unterschiedsbetrag i.H.v. 50.000 EUR nicht zuzurechnen, da er nach zwischenzeitlich (erstmals) ergangener Rechtsprechung infolge der unentgeltlichen Übertragungen bereits bei den Schenkern in früheren Feststellungszeiträumen hätte aufgelöst werden müssen. Das FA lehnte den Antrag ab, weil nach Rz. 28 des BMF-Schreibens vom 12.6.2002, IV A 6 – S 2133a – 11/02, BStBl I 2002, 614, eine Auflösung des Unterschiedsbetrags bei Schenkungen nicht stattfinde. Während des Klageverfahrens wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Durch das während des Klageverfahrens in Kraft getretene AbzStEntModG habe der Gesetzgeber die Vorschrift des § 5a Abs. 4 EStG um die Sätze 5 und 6 ergänzt, die nach § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n.F. rückwirkend und damit auch für das Streitjahr anwendbar seien. Mit dieser Neuregelung sei der seit 2019 vertretenen – der Verwaltungsmeinung widersprechenden – Rechtsauffassung des BFH, wonach auch das unentgeltliche Ausscheiden des Mitunternehmers nach § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG a.F. zur Auflösung des Unterschiedsbetrags führe, der Boden entzogen und die bisherige Verwaltungspraxis gesetzlich verankert worden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht handele es sich um eine zulässige Rückwirkung, da durch die Neuregelung lediglich eine Gesetzeslage festgeschrieben worden sei, die einer langjährigen Verwaltungspraxis entsprochen habe. Das FG (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 27.4.2022, 5 K 48/21, Haufe-­Index 15292151) wies die Klage ab.

 

Entscheidung

Der BFH setzte das Verfahren aus und legte dem BVerfG die im Leitsatz formulierte Frage zur Entscheidung vor. Nach Ansicht des BFH ist die in § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n.F. angeordnete rückwirkende Geltung des § 5a Abs. 4 Sätze 5 und 6 EStG n.F. aus den sich aus den Praxis-Hinweisen ergebenden Gründen verfassungswidrig. Diese Regelung stelle für das Streitjahr 2013 sowohl in formaler als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht eine echte Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar, die verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sei.

 

Hinweis

1. Die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Verbots von Gesetzen mit echter Rückwirkung beanspruchen Geltung, wenn eine Regelung aus verfassungsrechtlicher Sicht gegenüber der alten Rechtslage als konstitutive Änderung zu behandeln ist. Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber ist in jedem Fall als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn der Gesetzgeber damit nachträglich einer höchstrichterlich geklärten Auslegung des Gesetzes den Boden zu entziehen sucht. Der Gesetzgeber hat es für die Vergangenheit grundsätzlich hinzunehmen, dass die Gerichte das damals geltende Gesetzesrecht in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung verbindlich auslegen. Entspricht diese Auslegung nicht oder nicht mehr dem politischen Willen des Gesetzgebers, kann er das Gesetz für die Zukunft ändern.

2. Dem Gesetzgeber ist es unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes von Verfassungs wegen zwar nicht verwehrt, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor der Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprochen hat (Wiederherstellung einer einheitlichen Rechtsüberzeugung).

3. Eine solche – das Vertrauen des Bürgers in die Geltung eines Gesetzes zerstörende – einheitliche "Rechtsüberzeugung" ist jedoch nicht gegeben, solange eine Verwaltungspraxis keine Zustimmung durch die Rechtsprechung erfahren hat. Erst recht liegt keine einheitliche "Rechtsüberzeugung" vor, wenn die zust...

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