Zwar behandelt das Urteil lediglich Wegzüge in die Schweiz nach der bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung, die getroffenen Grundlagen müssen jedoch erst recht für Wegzüge in EU-/EWR-Staaten sowie Wegzüge nach dem 31.12.2021 gelten.

Da weder der BFH noch der EuGH darauf abstellt, dass ein Umzug in die Schweiz nicht schlechter behandelt werden darf als ein Wegzug ins EU-/EWR-Ausland, sondern darauf, dass durch die Wegzugsbesteuerung ohne Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile eine Ungleichbehandlung zwischen Umzügen innerhalb Deutschlands und Wegzügen in die Schweiz vorliegen würde und eine materiell-rechtliche Besserstellung von Wegzügen in die Schweiz im Vergleich zu Wegzügen ins EU-/EWR-Ausland nicht gewollt sein kann, müssen die getroffenen Feststellungen über den betroffenen Einzelfall hinaus gelten.

Beraterhinweis Unzweifelhaft ist den Stpfl., die vor dem 1.1.2022 in die Schweiz gezogen sind und aufgrund dessen die Wegzugsteuer ohne Möglichkeit einer dauerhaften und zinslosen Stundung zahlen mussten, diese Steuer von Amts wegen zu erstatten. Und zwar unter Berücksichtigung der Rspr. des EuGH zzgl. Zinsen, da, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, der Einzelne einen Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuern, sondern auch der Beträge, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind, hat (vgl. BFH v. 15.11.2022 – VII R 29/21, BStBl. II 2023, 803, unter Verweis auf die Rspr. des EuGH, u.a. EuGH v. 19.7.2012 – C-591/10 – Littlewoods Retail u.a., ECLI:EU:C:2012:478, DB 2012, 1903; EuGH v. 27.9.2012 – C-113/10 – Zuckerfabrik Jülich, ECLI:EU:C:2012:591). Auch wenn diese Pflicht die Finanzbehörden von Amts wegen trifft, ist ein entsprechender Antrag ratsam (vgl. auch Anm. Binnewies/Mehlhaf, ISR 2024, 95, 98).

Darüber hinaus sollte das BMF-Schreiben v. 13.11.2019 i.S.d. Rspr. des BFH angepasst werden, um den unionsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden. Aufgrund der klaren Aussagen des EuGH, die der BFH aufgegriffen hat, genügt entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung die Möglichkeit einer Ratenzahlung mit Zinszahlungsverpflichtung nicht, um den Liquiditätsnachteil, den ein Wegzügler in die Schweiz aufgrund der Wegzugsteuer erleidet, auszugleichen. Es ist jedoch aufgrund des bisherigen Vorgehens der Finanzverwaltung weder mit einem Nichtanwendungserlass noch mit der automatischen Gewährung der dauerhaften und zinslosen Stundung zu rechnen.

Da der BFH die Gewährung einer dauerhaften Stundung bei einem Wegzug in die Schweiz, vermutlich mangels planwidriger Regelungslücke, nicht auf eine analoge Anwendung des § 6 Abs. 5 AStG a.F. stützte, dürfen die in § 6 Abs. 5 Satz 4 AStG a.F. kodifizierten Widerrufsgründe auf Wegzüge in die Schweiz keine Anwendung finden (so auch Häck, IStR 2024, 104, 110). Da darüber hinaus nach Ansicht des BFH kein Zweifel daran besteht, dass der EuGH die in § 6 Abs. 4 und 5 AStG a.F. kodifizierten Stundungsregelungen zumindest explizit für Wegzüge in die Schweiz verworfen hat (BFH v. 6.9.2023 – I R 35/20, Rz. 19, BFH/NV 2024, 302 = ISR 2024, 95 [Binnewies/Mehlhaf]), muss dies auch für Wegzüge in EU-/EWR-Staaten gelten. Ferner dürften in diesen Fällen auch die Widerrufsgründe des § 6 Abs. 5 Satz 4 AStG a.F. für vor dem 1.1.2022 erfolgte Wegzüge in EU-/EWR-Staaten nicht anzuwenden sein, soweit diese andere Vorfälle als Veräußerungen betreffen.

Da der BFH in Übereinstimmung mit der Rspr. des EuGH die Stundung bis zur Realisierung der Wertzuwächse, d.h. bis zur Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, als europarechtlich geboten ansieht, dürfte ein Widerruf der Stundung mithin nur rechtmäßig sein, wenn der vorliegende Sachverhalt steuerrechtlich einer Veräußerung und damit einer Realisierung der Wertzuwächse gleichsteht. Mit Blick auf die Widerrufsgründe des § 6 Abs. 5 Satz 4 AStG a.F. ist dies insb. für unentgeltliche Übertragungen der Anteile (§ 6 Abs. 5 Satz 4 Nr. 2 AStG a.F.) zu verneinen, da eine Schenkung keine Veräußerung ist. Auch die erst durch Gesetz vom 21.12.2023 (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2022/2523 des Rates zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung und weiterer Begleitmaßnahmen, v. 21.12.2023, BGBl. I 2023, 397) neu in § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AStG eingefügte Regelung, dass die Stundung nach § 6 Abs. 4 oder 5 in einer bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung auch zu widerrufen ist, soweit nach dem 16.8.2023 Gewinnausschüttungen erfolgen oder eine Einlagenrückgewähr erfolgt und soweit deren gemeiner Wert insgesamt mehr als ein Viertel des gemeinen Werts zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Tatbestands i.S.d. Satzes 1 beträgt, ist wohl nur mit Unionsrecht vereinbar, soweit diese Vorgänge steuerrechtlich einer Veräußerung und damit einer Realisierung der Wertzuwächse gleichstehen. Dies dürfte zumindest bei Gewinnausschüttungen, die nach dem Wegzug erwirtschaftete Gewinne betreffen, ausgeschlossen sein (i...

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