Rz. 1

[Autor/Stand] Bis zum Inkrafttreten der RAO 1919 hatten die Strafgerichte in Steuer- und Zollstrafsachen, in denen die Strafbarkeit einer Handlung von der Entscheidung einer dem Steuerrecht angehörigen Vorfrage abhing, auch über diese gemäß den für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen allgemein geltenden Vorschriften zu entscheiden. Bei uneingeschränkter Geltung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung bestand daher für das Strafgericht nur die Möglichkeit, das Verfahren bis zur Herbeiführung einer Entscheidung der zuständigen FinB oder FG – in analoger Anwendung des § 262 StPO (früher § 261 StPO) – auszusetzen. Von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen stand im Ermessen des Gerichts[2].

 

Rz. 2

[Autor/Stand] Mit dem Inkrafttreten der RAO 1919 wurde diese Rechtslage durch § 433 RAO tiefgreifend verändert. Diese Vorschrift lautete:

Hängt eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung davon ab, ob ein Steueranspruch besteht, oder ob und in welcher Höhe ein Steueranspruch verkürzt oder ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, und hat der Reichsfinanzhof über diese Fragen entschieden, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Liegt eine Entscheidung des Reichsfinanzhofs nicht vor, sind die Fragen jedoch von Finanzbehörden oder Finanzgerichten zu entscheiden, so hat das Gericht das Strafverfahren auszusetzen, bis über die Fragen rechtskräftig entschieden worden ist. Entscheidet der Reichsfinanzhof, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Ergeht keine Entscheidung des Reichsfinanzhofs, so hat das Gericht, wenn es von der rechtskräftigen Entscheidung des Finanzamts oder der Rechtsmittelbehörde abweichen will, die Entscheidung des Reichsfinanzhofs einzuholen. Es übersendet die Akten dem Reichsfinanzhof. Dieser entscheidet im Beschlußverfahren in der Besetzung von fünf Mitgliedern. Seine Entscheidung ist bindend. Während der Aussetzung des Verfahrens ruht die Verjährung. Weicht die Entscheidung des Reichsfinanzhofs von der rechtskräftigen Entscheidung des Finanzamts oder der Rechtsmittelbehörde ab, so ist diese zu berichtigen; § 212 Abs. 2, 3, § 213 gelten entsprechend.

Auf diese Vorschrift geht der heute geltende § 396 AO in seinem Kern zurück. Obschon die heute geltende gesetzliche Regelung seitdem ihr Gesicht stark verändert hat, kann sie als "Rest" der Ursprungsvorschrift bezeichnet werden[4].

 

Rz. 3

[Autor/Stand] Bemerkenswert an dieser Fassung des § 433 RAO war zum einen die Bindung der Strafgerichte an die Entscheidungen des RFH, soweit sie steuerliche Vorfragen betrafen, zum anderen und im vorliegenden Zusammenhang besonders bedeutsam die den Strafgerichten auferlegte Verpflichtung, das Strafverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die steuerlichen Fragen auszusetzen. Damit wurde den Strafgerichten im Bereich des Steuerstrafrechts "jede Möglichkeit unabhängiger und selbständiger Entscheidung über die äußeren und inneren Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung und Steuergefährdung entzogen"[6] und letztlich der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durchbrochen[7]. Durch § 433 RAO sollte "das unannehmbare Ergebnis, dass in derselben Steuersache sich widersprechende rechtskräftige Entscheidungen im Steuerfestsetzungsverfahren und im Steuerstrafverfahren ergehen, vermieden und hierbei namentlich dem RFH zur Erzielung einer möglichst einheitlichen Behandlung der einschlägigen Steuersachen im ganzen Reich ein ausschlaggebender Einfluss eingeräumt werden"[8].

 

Rz. 4

[Autor/Stand] Abgesehen von dem nicht zur Gesetzesreife gelangten Ansatz im Entwurf 4 eines EGADStGB 1930, die Regelung der Vorfragenkompetenz umzugestalten[10], blieb § 433 RAO zunächst unangetastet und wurde unverändert als § 468 in die RAO 1931 übernommen.

 

Rz. 5

[Autor/Stand] Erst im Jahre 1952 wurde wieder ein Versuch unternommen, die Vorschrift sachlich einzuschränken.[12] Der Gesetzesentwurf sah vor, die Bindung an Entscheidungen des BFH beizubehalten, die Verpflichtung der Gerichte zur Aussetzung des Strafverfahrens hingegen abzuschaffen und durch eine Ermessensregelung zu ersetzen. Wenngleich dieser Entwurf nicht Gesetzeskraft erlangte, kündigte sich hier bereits die Richtung an, in die sich die Reformbestrebungen in der Folgezeit bewegten.

 

Rz. 6

[Autor/Stand] In der 4. Wahlperiode des Deutschen Bundestages war in dem Entwurf des AO-StPO-ÄG[14] vorgesehen, die Vorlagepflicht des Strafrichters abzuschaffen und seine Bindung an die im Besteuerungsverfahren ergehenden Entscheidungen zu lockern.

 

Rz. 7

[Autor/Stand] Im Ergebnis wurde § 468 RAO durch § 162 Nr. 52 FGO[16] dahin gehend geändert, dass zwar die Verpflichtung des Strafrichters, die Entscheidung des BFH einzuholen, beseitigt wurde, die Bindung an ergangene Entscheidungen des obersten Steuergerichts jedoch bestehen blieb.

 

Rz. 8

[Autor/Stand] Die endgültige Beseitigung der Bindungswirkung erfolgte durch das 1. AOStrafÄndG vom 10.8.1967[18]. Die mit der Gesetzesvorlage befassten Ausschüsse vertraten die Auffassung, dass die Bindung der Strafgerichte an Ur...

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