Rz. 5

Hintergrund der Regelung ist, wie sich auch aus der Gesetzesbegründung ergibt, die rechtstheoretische Diskussion um soziale Grundrechte. Dabei handelt es sich um die Frage, ob vorhandene oder zu schaffende Regelungen über soziale Sicherung, die für den Bürger immer wichtiger werden, nicht auch in der Verfassung zu verankern seien oder sich aus der Verfassung als Gewährleistung ergeben sollten. Das allgemeine Ziel des sozialen Rechtsstaats beinhaltet und nimmt zwar die vorhandenen Rechtspositionen in Bezug, gewährleistet diese jedoch nicht und auch nicht in einem bestimmten rechtlichen Umfang. (Zum Rückgriff auf das Sozialstaatsgebot als Auslegungshilfe auf sozialrechtlichem Gebiet vor dem SGB I vgl. Ricke, SGb 1962, 403, sowie nunmehr die Kontroverse zwischen Eichenhofer und Fichte, SGb 2011, 301, 492, 511.) Eine verfassungsrechtliche Festlegung von bestimmten Ansprüchen auf soziale Leistungen scheitert jedoch daran, dass die Gesellschaft und damit auch der Bedarf an sozialen Rechten einem ständigen Wandel unterliegt, sodass soziale Grundrechte letztlich nicht abschließend bestimmt werden können. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich bei bestimmten Bedarfslagen erst im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen ergibt. So ist die Notwendigkeit der Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit erst aus der demografischen Entwicklung im Zusammenhang mit dem Verlust des Familienverbundes, innerhalb dessen zuvor die Pflegeleistungen erbracht wurden, entstanden. Letztlich ist für die Frage bestimmter sozialer Rechtspositionen und Leistungsansprüche auch deren Finanzierbarkeit und die Art der Finanzierung zu berücksichtigen. Dies gilt heute in weit stärkerem Maße als in den frühen Siebzigerjahren, in denen das SGB I geschaffen wurde.

 

Rz. 5a

Auffällig ist, dass die Vorschrift nur von den sozialen Rechten, nicht jedoch von dementsprechenden sozialen Pflichten spricht. Ob man solche soziale Pflichten aus dem Sozialstaatsprinzip ableiten kann (so Lilge, SGB I, 4. Aufl., § 2 Rz. 9) erscheint eher zweifelhaft. Jedoch stehen vielen der sozialen Rechte auch Pflichten gegenüber, sei es, dass die Leistungen von eigenen Bemühungen oder dem Einsatz eigener Mittel abhängig sind, oder den Leistungen Beitragspflichten gegenüberstehen, wie dies insbesondere in der Sozialversicherung als Ausdruck des Solidaritätsgrundsatzes der Fall ist.

2.1.1 Aufgaben der sozialen Rechte (Abs. 1 Satz 1)

 

Rz. 6

Vor diesem Hintergrund begnügt sich die Formulierung in Abs. 1 Satz 1 damit, die in § 1 als Ziel und Aufgabe des SGB angesprochenen Schutzgüter mit den in §§ 3 bis 10 angesprochenen sozialen Rechten in der Weise miteinander zu verbinden, dass diese der Erfüllung der Aufgabe soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit und den damit verbundenen Sozialleistungen dienen sollen. § 2 selbst enthält allerdings kein soziales Recht (so auch Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, § 1 Rz. 3, Stand: 15.3.2018).

 

Rz. 7

Die Vorschrift enthält einen Mittelweg zwischen der Formulierung bestimmter sozialer Grundrechte und einfachgesetzlich eingeräumter Rechtspositionen. Dabei sind allerdings die sozialen Rechte der §§ 3 bis 10 mit der Anknüpfung an bestimmte Bedarfslagen ihrerseits bereits so rudimentär gefasst, dass sich auch unter Berücksichtigung der Einweisungsvorschriften (§§ 18 bis 29) daraus keine gefestigten Rechtspositionen ableiten lassen. § 2 i. V. m. §§ 3 bis 10 steht daher einer Reduzierung bisher einzelgesetzlich vorgesehener Sozialleistungen ebenso wenig entgegen wie die Zielvorstellungen des § 1 (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 23.11.2006, B 11b AS 1/06 R zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe). Ebenso lassen sich die nur vom Grundsatz her angesprochenen sozialen Rechte dem Gesetzgeber die Möglichkeit offen, Regelungen in nicht dem Sozialrecht zuzurechnenden Gesetzen zu treffen, wie dies für die Minderung des Familienaufwands bei Unterhaltspflichten nach § 6 nunmehr weitgehend im Einkommensteuerecht durch Kinderfreibeträge (§ 32 EStG) und für das (steuerrechtliche) Kindergeld (§ 62 EStG) geregelt ist.

2.1.2 Keine Ansprüche aus den sozialen Rechten (Abs. 1 Satz 2)

 

Rz. 8

Der Satz 2 schließt ausdrücklich die Herleitung konkreter Rechtsansprüche auf Sozialleistungen aus den sozialen Rechten aus, was auch angesichts der vagen Formulierungen in den §§ 3 bis 10 bereits in der Sache kaum möglich sein dürfte. Ansprüche auf Sozialleistungen können daher nur dann und in dem Umfang geltend gemacht werden, als die Voraussetzungen und der Inhalt durch und in Vorschriften der besonderen Teile des SGB im Einzelnen bestimmt sind. Dieser strenge ausdrückliche Gesetzesvorbehalt für alle Sozialleistungen und deren Gewährung wird in § 31 (vgl. Komm. dort) durch den gerade auch für die Leistungsgewährung gelten Gesetzesvorbehalt bekräftigt und bestätigt.

 

Rz. 9

Mit Abs. 1 Satz 2 wird daher die Grund- und Leitidee der sozialen Rechte darauf reduziert, dass soziale Rechte nur die Rechte und Rechtspositionen sind, die in den besonderen Teilen des SGB nach Voraussetzungen und Inhalt vorgesehen sind. Allerdings enth...

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