Recht von Häftlingen mit hohen Freiheitsstrafen auf Ausführung

Langzeit-Häftlinge sollen nicht erst dann ausgeführt werden, wenn Haftschädigungen eingetreten sind oder die Entlassung kurz bevorsteht. Ausführungen dienen der Erhaltung der Lebenstüchtigkeit und können nur verwehrt werden, wenn konkret Flucht oder Missbrauch zu befürchten sind, die nicht abgesichert werden können. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in drei Fällen, in denen Häftlingen Ausführungen versagt wurden.

Drei Strafgefangene in drei verschiedenen Bundesländern (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, NRW) verband dasselbe Anliegen: Sie verbüßten lange Haftstrafen von zwölf und mehr Jahren und wollten ausgeführt werden.

Grundrecht auf Resozialisierung gilt auch für Haftstrafe bei schwersten Delikten

Sie sitzen nicht wegen Kleinigkeiten ein, sondern haben Mord, Totschlag bzw. Kindesmissbrauch verübt. Dennoch geht es laut Verfassung darum, auch ihnen ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Es ist ihr Grundrecht auf Resozialisierung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) , denn die

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Das nimmt das BVerfG sehr ernst.

Vollzugslockerungen Jahre vor der Entlassung für eine bessere Wiedereingliederung

Um Gefangene wiedereinzugliedern sollen ihnen Vollzugslockerungen bzw. vollzugsöffnende Maßnahmen gewährt werden, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht. Diese Maßnahmen sind gleichzeitig Gelegenheiten sich zu beweisen und die Entlassungsprognose zu verbessern.

Gefangenschaft ist schädlich und kann die Lebenstüchtigkeit beeinträchtigen. Je länger sie andauert, desto größer ist die Gefahr.

Die Resozialisierung ist das leitende Motiv. Deshalb soll der Sträfling nicht erst dann ausgeführt werden, wenn es erste Anzeichen von Haftschäden wie haftbedingter Depravation gibt. Im Klartext der obersten Verfassungsrichter bedeutet das, dass der bewachte Ausgang schon Jahre vor der Entlassung wichtig ist.

Ausgang unter Aufsicht und sonstigen Sicherheitsvorkehrungen sind ein Anfang

Diese Maßnahmen sind auch bei Gefangenen anzulegen, die noch nicht soweit sind, vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne zu bekommen, z.B. wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr. Ausführungen mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen sind für sie die Anfangsmaßnahmen zum Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit.

Ablehnung der Ausführung im besonderen Einzelfall möglich

Im Einzelfall kann bei einer zu hohen Sicherheitsgefahr ein Ausführungsantrag abgelehnt werden. Dazu muss der

  • betroffene Gefangene in den Mittelpunkt gerückt und
  • die Gefahren von allen Seiten exakt bewertet und beleuchtet werden.
  • Alle realisierbaren Sicherheitsvorkehrungen sind ihnen gegenüber zu stellen
  • mit dem Ziel die Ausführung möglich zu machen.

Pauschale Wertungen reichen auch angesichts des Ermessensspielraums der JVA für eine Ablehnung nicht aus.

JVAs und Gerichte haben Resozialisierung nicht genug Bedeutung beigemessen

Diesen Fehler haben die JVAs und dem BVerfG vorgehenden Gerichte allesamt begangen. Es gab wenig Konkretes und viel Unspezifisches zur Ablehnung des bewachten Ausgangs und alle beriefen sich auf die noch nicht wahrnehmbaren Haftschädigungen ihrer Insassen.

Die noch lange bestehende Haftzeit wurde als Fluchtgefahr interpretiert. In dem Fall, in dem der Gefangene im Rollstuhl saß und deshalb nicht ernsthaft fliehen konnte, war sie Begründung dafür, dass es noch zu früh war ihn auf die Entlassung vorzubereiten.

(BVerfG, Kammerbeschlüsse v. 17./18.9.2019, 2 BvR 650/19, 2 BvR 681/19, 2 BvR 1165/19).


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Hintergrund: Reformbedarf im Strafvollzugsrecht

Auf den 42. Strafverteidigertag im März 2018 in Münster, auf dem rund 800 Strafverteidiger zusammenkamen, wurde unter dem Motto "Räume der Unfreiheit“ über den Reformbedarf im Straf-, Strafprozess- und Strafvollzugsrecht diskutiert. Sie stellten fest:

Der Freiheitsstrafe in ihrer heutigen Form und Ausgestaltung (→Kleine Kulturgeschichte der Gefängnissesei kein gutes Zeugnis auszustellen. Sie mindere die soziale Anschlussfähigkeit und die Integrationschancen der Bestraften und eine Resozialisierung als eigentliches Vollzugsziel finde in der Praxis nur selten statt.

Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe würden rund 50 % der Erwachsenen und 70 % der Jugendlichen und Heranwachsenden rückfällig.

Unter den Gefangenen sei eine zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen zu beobachten, die – unabhängig von der ohnehin schon schlechten medizinischen Versorgung – regelmäßig unbehandelt blieben.

Gewalt unter Gefangenen sei Alltag, die Suizidrate sei ca. zwölfmal so hoch wie im Durchschnitt der Bevölkerung. Hinzu kämen soziale Verrohung und Vereinsamung.

Aus: Deutsches Anwalt Office Premium

Schlagworte zum Thema:  Recht, Bundesverfassungsgericht