Auch im Eilverfahren Anspruch auf rechtliches Gehör

Zum wiederholten Mal hat das BVerfG eine im Eilverfahren ohne Anhörung des Gegners erlassene Entscheidung des LG Berlin wegen Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit aufgehoben.

Das BVerfG betont in seiner jetzigen Entscheidung erneut den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG und der durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Gleichwertigkeit der Prozessstellung der Parteien vor Gericht. Dieser gelte grundsätzlich auch in zivilrechtlichen Eilverfahren.

Kritische Berichterstattung untersagt

In dem nun vom BVerfG entschiedenen Fall hatte das LG Berlin im Eilverfahren wegen der Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung einem Presse-Verlag in Teilen die Berichterstattung über ein von der prominenten Antragstellerin ausgerichtetes Richtfest für ihr im Bau befindliches Anwesen untersagt. Der Presse-Verlag hatte kritisch über die Durchführung der nicht ganz kleinen Feier im Hinblick auf die damit verbundenen Ansteckungsgefahren im Rahmen der Corona-Pandemie berichtet.

Einstweilige Verfügung nach mehrfachen Hinweisen

Nach Eingang des Antrages auf einstweilige Verfügung hatte das LG die Antragstellerin in einem gerichtlichen Hinweis darauf aufmerksam gemacht, dass der Antrag in Teilen unzulässig sei bzw. keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf die hierzu bei Gericht seitens der Antragstellerin eingegangene Stellungnahme, erteilte das Gericht erneut einen Hinweis, mit welchem die Kammer ihre Bedenken gegen den Verfügungsantrag wiederholte. Hierauf nahm die Antragstellerin ihren Antrag teilweise zurück, worauf das LG den noch verbliebenen Teilantrag positiv beschied und die erstrebte einstweilige Verfügung erließ.

Information erst 8 Wochen nach Verfügungsbeschluss

Das gesamte Verfügungsverfahren verlief ohne Einbindung der Antragsgegnerin. Die gerichtlichen Hinweise hatte nur die Antragstellerin erhalten. Nach Zustellung der einstweiligen Verfügung bemühte sich die Antragsgegnerin nachträglich um Kenntnisnahme vom Inhalt der ergangenen Hinweisbeschlüsse. Es dauerte acht Wochen, bis das Gericht der Antragstellerin die Beschlüsse zukommen ließ.

Prozessuale Waffengleichheit gravierend verletzt

Hierauf legte die Antragsgegnerin gegen die erlassene einstweilige Verfügung Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein. Das BVerfG bewertete das Vorgehen des LG als gravierende und offenkundige Verletzung des Gebots der prozessualen Waffengleichheit. Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit sei eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Es handle sich um ein aus dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG prozessuales grundrechtsgleiches Recht, das die Gerichte verpflichte, in einem gerichtlichen Verfahren jeder Prozesspartei vor einer Entscheidung in gleicher Weise Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren und damit auf den Verlauf des Verfahrens Einfluss zu nehmen.

Rechtliches Gehör gilt auch für Hinweisbeschlüsse

Dieser Grundsatz gilt nach der Entscheidung des BVerfG auch für Hinweise, die das Gericht gemäß § 139 ZPO erteilt. Auch ein Eilverfahren sei kein einseitiges Geheimverfahren, in dem das Gericht mit dem Antragsteller über mehrere Wochen rechtliche Fragen erörtern dürfe, ohne die Gegenseite einzubeziehen. In einstweiligen Rechtsschutzverfahren dürfe ausnahmsweise ohne mündliche Verhandlung und ohne Einbeziehung der Gegenseite eine Entscheidung dann ergehen, wenn die Entscheidung aus zeitlichen Gründen keinerlei Aufschub dulde und die Durchsetzung eines Rechtes sonst unmöglich oder erheblich erschwert würde.

Gerichtliche Hinweise grundsätzlich an beide Parteien

Eine solche Ausnahmesituation ist nach der Entscheidung des BVerfG aber nicht gegeben, wenn das Gericht die Zeit findet, rechtliche Hinweise zu erteilen und in einem mehrwöchigen Verfahren Gericht und Antragstellerin Rechtsansichten austauschen. In diesem Fall müssten die Hinweise grundsätzlich an beide Parteien ergehen und beide Parteien in gleicher Weise die Möglichkeit zur Stellungnahme haben. Alles andere sei eine eklatante Verletzung des Prinzips der Waffengleichheit im Prozess.

Verfassungsbeschwerde erfolgreich

Die Verfassungsbeschwerde war damit erfolgreich und führte zur Aufhebung des Verfügungsbeschlusses.


(BVerfG, Beschluss v. 11.1.2022, 1 BvR 123/21)


Hintergrund

Eine Rüge dieser Art durch das BVerfG trifft das LG Berlin nicht zum ersten Mal. Bereits im Juni 2020 hatte das BVerfG dem LG Berlin wegen des gleichen Verfahrensfehlers eine deutliche Ohrfeige erteilt.

Wiederholte Zurechtweisung durch das BVerfG

Im Zusammenhang mit der „Ibiza-Affäre“, die in Österreich eine Regierungskrise auslöste und den dortigen ehemaligen FPÖ-Chef zum Rücktritt zwang, hatte ein deutsches Nachrichtenmagazin mehrfach berichtet. Der zurückgetretene FPÖ-Politiker sah in der Berichterstattung einen Rufmord und erreichte beim LG Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit welchem dem Magazin die Berichterstattung teilweise untersagt wurde - auch damals ohne vorherige Anhörung und Einbeziehung des betroffenen Presseverlags. Wegen der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG setze das BVerfG die Vollziehung der einstweiligen Verfügung im damaligen Fall vorläufig aus (BVerfG, Beschluss v. 17.6.2020, 1 BvR 1380/20).

Gleicher Verfahrensfehler auch beim OLG

Auch das ehrwürdige hanseatische OLG musste sich kürzlich in gleicher Weise vom BVerfG zurechtweisen lassen. Auch das hanseatische OLG hatte vor Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Unterlassung von Äußerungen auf einer Internetplattform ausschließlich der Antragstellerin mehrere gerichtliche Hinweise erteilt, worauf diese ihre Anträge umgestellt, ergänzt und teilweise zurückgenommen hat, ohne dass die Gegenseite in das Verfahren einbezogen worden wäre. Auch in diesem Fall rügte das BVerfG einen eklatanten Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit. (BVerfG, Beschluss v. 1.12.2021, 1 BvR 2708/19).


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