LG Hanau, Urt. v. 23.3.2022 – 4 O 1171/21
Dem Kl. steht gegenüber der Beklagten ein Recht auf Einsicht in das von der Beklagten aufgrund seiner Schadensanzeige eingeholte Kaskogutachten zu. Dabei kann dahinstehen, ob die beklagte Versicherung gemäß § 810 BGB verpflichtet ist dem Kl. Einsicht in das von ihr eingeholte Schadensgutachten zu gewähren (bejahend LG Oldenburg, r+s 2012, 343; LG Dortmund, NJW-RR 2008, 1483 … a.A. LG Berlin, r+s 2002, 220), da jedenfalls nach Treu und Glauben und dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme eine vertragliche Nebenpflicht hierzu besteht.
Die Parteien sind über einen Versicherungsvertrag und damit ein Schuldverhältnis, das die Bekl. nicht nur zur Gewährung von Versicherungsschutz, sondern nach den auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützten Pflichten der Vertragsparteien auch zur gegenseitigen Unterstützung und zur Mitwirkung bei der Erreichung der Ziele der anderen Partei verpflichtet, miteinander verbunden. Dementsprechend ist – wie auch die Bekl. grundsätzlich nicht in Abrede stellt – im Rahmen eines lauteren und vertrauensvollen Zusammenwirkens der Vertragspartner eine Verpflichtung des Versicherers, seinen Versicherungsnehmern Einsicht in von ihm eingeholte Schadensgutachten zu gewähren, im Grundsatz jedenfalls dann anzuerkennen, wenn der VN den VR zur Gewährung von Einsicht auffordert und für den VR das verfolgte Ziel des Versicherungsnehmers ersichtlich ist (vgl. OLG Saarbrücken, BeckRS 2020, 10741 Rn 17 m.w.N.; OLG Schleswig, NJW-RR 2020, 1351). Dieser bestehenden Verpflichtung ist die Bekl. trotz der mehrfachen Aufforderung des Kl. nicht nachgekommen.
Soweit die Bekl. ihre ablehnende Haltung unter Verweis auf die Entscheidung des OLG Saarbrücken vom 22.4.2020 – 5 U 55/19 und die Verfügung sowie den Beschluss des Hanseatischen OLG darauf gestützt hat, dass sich der Kl. aufgrund der aus ihrer Sicht zögerlichen Auskunftserteilung über den Vorschaden und dessen Instandsetzung unredlich verhalten habe, vermag sie hiermit nicht durchzudringen.
Nach dem unstreitigen Vortrag der Parteien legte der Kl. bereits im unter dem 7.2.2021 datierten Fragebogen den bestehenden Vorschaden gegenüber der Bekl. offen. Da die Bekl. unstreitig zuvor keine Angaben zu etwaigen Vorschäden verlangte ist der Einwand der Bekl., wonach der Kl. infolge der zögerlichen Auskunftserteilung über den Vorschaden als nicht schutzwürdig erscheine, bereits nicht nachzuvollziehen. Auch der pauschale Einwand der Bekl., wonach der Kl. infolge seiner Angaben zur Instandsetzung, insbesondere der Angabe, dass er über keine weiteren Belege über die Reparatur verfüge, als nicht schutzwürdig erscheine, verfängt nicht.
Anders als in der zitierten Entscheidung des OLG Saarbrücken, in der das von der dortigen Versicherung eingeholte Kaskogutachten ergeben hatte, dass die vom VN bei seiner Versicherung eingereichte Rechnung einige Auffälligkeiten aufwies und der Verdacht bestand, dass zahlreiche tatsächlich nicht verbaute Neuteile zu Lasten der dortigen Versicherung abgerechnet werden sollten, begehrt der Kl. vorliegend bereits nicht die Regulierung des Vorschadens, sondern die Regulierung auf einen unstreitig hiervon abgrenzbaren Schaden, sodass der Vorschaden bzw. dessen Reparatur nur hinsichtlich der Bestimmung des Fahrzeugwertes Bedeutung entfaltet. Darüber hinaus hat die Bekl. – anders als in der zitierten Entscheidung des Hanseatischen OLG – auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dargelegt, die darauf schließen lassen, dass sich aus dem Kaskogutachten Anhaltspunkte für ein treuwidriges Verhalten des Klägers ergeben, denn anders als beispielsweise in den zitierten Entscheidungen hat der Kl. gerade keine Belege über vermeintliche Reparaturmaßnahmen eingereicht, die durch das Kaskogutachten hätten widerlegt werden können.
Vielmehr hat der Kl., indem er eingeräumt hat, dass er über keine Belege verfüge, gegenüber der Beklagten sogar eine für ihn aus Beweissicht nachteilige Position offenbart.
Dem Anspruch des Kl. steht auch nicht entgegen, dass sich die Bekl. wegen zwischen den Parteien streitigen Obliegenheitsverletzungen, insbesondere, weil der Kl. aus Sicht der Bekl. der ihm obliegenden Wartepflicht nicht hinreichend nachgekommen sei und aus ihrer Sicht hierdurch notwendige Feststellungen, insbesondere zur konkreten Unfallörtlichkeit und zu seiner Fahrtüchtigkeit, verteilt habe, auf ihre Leistungsfreiheit beruft. Soweit die Bekl. die Einsicht mit der Argumentation verweigert, dass infolge ihrer Leistungsfreiheit ihre Eintrittspflicht dem Grunde nach nicht feststehe, verkennt sie, dass das Einsichtsrecht nicht nur der Feststellung dient in welchem Umfang der VR aus dem Versicherungsvertrag eintrittspflichtig ist, sondern auch der Feststellung, ob er überhaupt eintrittspflichtig ist (OLG Saarbrücken, BeckRS 2020, 10741), denn dem VN soll durch die Einsichtnahme in das Gutachten gerade ermöglicht werden, sich – auch vor dem Hintergrund der Waffengleichheit – über die Erfolgsaussichten seines Anspruchs insgesamt Ge...