Leitsatz (amtlich)

Wird ein für Radfahrer freigegebener Gehweg zunächst in die einmündende Straße geführt, um dort den Übergang mittels Fußgänger- und Radfahrerfurt zu ermöglichen, genießt ein Radfahrer gegenüber dem Abbieger nicht den Vorrang nach § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO, wenn er dem Gehweg nicht folgt, sondern die Straße unmittelbar an der Einmündung überquert.

 

Normenkette

BGB § 254; StVG §§ 7, 9; StVO § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 2a, § 9 Abs. 3 S. 1 Hs. 2, § 10

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Urteil vom 05.08.2022; Aktenzeichen 1 O 359/20)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 5.8.2022 - 1 O 359/20 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels aufgehoben.

1. Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird der Klageanspruch hinsichtlich der Klageanträge zu 1 und 3 dem Grunde nach zu 30 % und hinsichtlich des Klageantrags zu 2 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 70 % für gerechtfertigt erklärt.

2. Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 30 % der weiteren materiellen Schäden und die weiteren immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des Klägers von 70 % zu ersetzen, die aus dem Unfallereignis vom 1.11.2017, Einmündungsbereich B 423/L 237 resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Klageanträge zu 1 bis 3 und des Klageantrags zu 5 sowie über die Kosten, einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Saarbrücken zurückverwiesen.

III. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger macht gegen die Beklagten restliche Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 1.11.2017 auf der B 423 ereignet hat.

Der Kläger, dessen rechtes Bein bis auf einen restlichen Stumpf von 18 cm amputiert ist, befuhr mit seinem Fahrrad den parallel zur B 423 verlaufenden Gehweg aus Aßweiler kommend in Richtung Habkirchen. Dieser ist durch Verkehrszeichen 239 ("Gehweg") mit dem Zusatzzeichen 1022-10 ("Radfahrer frei") für Radverkehr freigegeben. Im Einmündungsbereich der B 423/L 237 verschwenkt der Gehweg nach rechts in die L 237 und wird einige Meter von der Einmündung entfernt mittels einer Querungshilfe über die L 237 geführt. Der Kläger fuhr von dem Gehweg in Geradeausfahrt in den Einmündungsbereich der B 423/L 237 ein, um die L 237 zu überqueren und seine Fahrt auf der B 423 fortzusetzen. Hierbei kam es zur Kollision mit dem in gleicher Fahrtrichtung fahrenden Beklagtenfahrzeug ... (amtl. Kz.: ...), als die Erstbeklagte nach rechts in die L 237 einbog. Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine dislozierte Trümmerfraktur des Radiusköpfchens rechts. Die Zweitbeklagte zahlte vorgerichtlich einen Betrag von insgesamt 1.790,- EUR (hiervon 900,- EUR Schmerzensgeld).

Mit seiner Klage hat der Kläger die Beklagten gesamtschuldnerisch auf Zahlung von restlichen 2.530,17 EUR Schadensersatz (417,65 EUR Reparaturkosten + 17,- Unkostenpauschale + 408,30 EUR Fahrtkosten + 70,- EUR Krankenhauskosten + 22,41 EUR Medikamentenkosten + 129,28 EUR Zuzahlung Reha und Kosten RTW + 27,13 EUR Kosten Presseannonce Zeugensuche + 84,- EUR Fahrtkosten Ehefrau + 1.789,05 EUR Kosten für die Pflege durch die Ehefrau) sowie ein in das Ermessen der Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens weiteren 2.100,- EUR nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Anspruch genommen. Ferner hat er die Feststellung begehrt, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen. Hierzu hat geltend gemacht, er habe seine Geschwindigkeit vor dem Einmündungsbereich auf maximal Schrittgeschwindigkeit reduziert, den Fahrzeugverkehr auf der L 237 und der B 423 beobachtet und sich vor dem Einfahren mittels Schulterblick nach dem Verkehr auf der B 423 vergewissert. Als er den Einmündungsbereich bereits fast überquert habe, sei das Beklagtenfahrzeug mit seinem Fahrrad im Bereich des hinteren Reifens kollidiert.

Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Sie haben geltend gemacht, die Kollision habe sich im ersten Drittel des Einmündungsbereichs ereignet, wobei der Kläger in das einbiegende Beklagtenfahrzeug gefahren sei.

Das Landgericht, auf dessen tatsächlichen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend Bezug genommen wird, hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger sei ein Verstoß gegen § 10 StVO vorzuwerfen. Ein Verschulden der Erstbeklagten gegen § 9 Abs. 1 StVO oder § 3 Abs. 2 a StVO sei demgegenüber nicht nachgewiesen. Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs trete hinter das grobe Verschulden des Klägers vollständig zurück.

Hiergegen richtet sich die Berufung ...

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