Leitsatz (amtlich)

Bei einer Weigerung der Eltern, das Kind eine Schule besuchen zu lassen, kommt eine Kindeswohlgefährdung in Betracht, auch wenn die Eltern auf andere Weise für eine hinreichende Wissensvermittlung und sonstige Entwicklung des Kindes sorgen.

 

Tenor

I. Im Wege der einstweiligen Anordnung werden ergänzend zu Ziffer 1 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts - Familiengericht - Offenburg vom 18.05.2022 (1 F 334/21) vorläufig folgende weitere Maßnahmen getroffen:

1. Die elterliche Sorge für das Kind T. J., geboren 2014, wird hinsichtlich der schulischen Angelegenheiten und hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts an Schultagen für die Dauer der Unterrichtszeiten vorläufig den Eltern entzogen.

2. Insoweit wird Ergänzungspflegschaft angeordnet.

3. Zum Ergänzungspfleger wird bestimmt: Jugendamt, Landratsamt Ortenaukreis, Badstr. 20, 77652 Offenburg.

4. Die Eltern werden verpflichtet, das Kind jeweils an den Schultagen an den Ergänzungspfleger auf Verlangen herauszugeben.

5. Zur Vollstreckung der jeweiligen Herausgabe des Kindes darf unmittelbarer Zwang ausgeübt werden. Der Gerichtsvollzieher ist befugt, um Unterstützung der polizeilichen Vollzugsorgane nachzusuchen.

6. Der Gerichtsvollzieher wird ermächtigt zur gewaltsamen Öffnung der Wohnung der Eltern sowie zur Durchsuchung der Wohnung zum Zwecke des Auffindens des Kindes.

7. Für jeden Fall der zu vertretenden Zuwiderhandlung gegen die vorstehende Anordnung der Herausgabe des Kindes kann das Gericht gegenüber den Eltern ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils bis zu 25.000 EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft für eine Dauer von bis zu sechs Monaten anordnen. Verspricht die Anordnung von Ordnungsgeld keinen Erfolg, kann das Gericht sofort Ordnungshaft anordnen.

II. Die Gerichtskosten im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung tragen die Eltern je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

III. Der Wert des Verfahrens über den Erlass einer einstweiligen Anordnung wird auf 2.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Beim Senat ist ein Hauptsacheverfahren anhängig, in dem sich die Eltern mit ihrer Beschwerde gegen die Erteilung einer Weisung zum Schulbesuch im Rahmen des § 1666 BGB wenden.

Die verheirateten Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt für ihren Sohn T., geb. 2014 (7 Jahre).

Außerdem leben im Haushalt noch die 3 Geschwister:

  • N., geb. 2017 (5 Jahre),
  • A., geb. 2019 (2 Jahre) und
  • J., geb. 2021 (1 Jahr).

Die Mutter betreut die vier Kinder, der Vater war als Altenpflegehelfer berufstätig, ist mittlerweile arbeitslos.

Das Kind T. wurde mit 6 Jahren und 10 Monaten im September 2021 als Erstklässler in die S.schule eingeschult, ist aber bisher zu keinem einzigen Schultag erschienen.

Den fehlenden Schulbesuch erklärten die Eltern

  • mit der Testpflicht (insb.: die Tests würden Krebs verursachen),
  • mit der Maskenpflicht (angebliche Erstickungsanfälle; Attest eines rechtskräftig wegen falscher Atteste verurteilten Zahnarztes) sowie
  • mit der Gefahr einer Zwangsimpfung durch die Schule (Stichwort: Impfbus; die Eltern verlangten insoweit eine eidesstattliche Versicherung des Schulleiters).

Die Kinder sind nicht gegen Masern geimpft, weshalb das nächstjüngere Kind N. auch keinen Kindergarten besucht. T. geht nach Mitteilung der Eltern regelmäßig zu den R. (einem Jugendverband einer Freikirche pfingstkirchlicher Prägung).

Wegen des fehlenden Schulbesuches wandte sich die Schule an das Jugendamt, das mit Schreiben vom 22.12.2021 ein Verfahren nach § 1666 BGB anregte (1 F 334/21). Die vom Familiengericht bestellte Verfahrensbeiständin durfte im Beisein der Eltern ein einziges Gespräch mit dem Kind führen. Ein Vermittlungsversuch zwischen Eltern und Schule scheiterte. Nach der schriftlichen Stellungnahme des Verfahrensbeistands wurde von den Eltern weiterer Kontakt zum Kind verweigert. Die Eltern stellten gegen die Verfahrensbeiständin einen Befangenheitsantrag, in dem sie die Vorgehensweise der Verfahrensbeiständin, das Kind zum Schulbesuch und zu einem Spaziergang mit ihr alleine zu bewegen, rügten. Dieser Antrag wurde abgelehnt.

Mit Datum vom 12.03.2022 ging ein "Zeugenbericht" von Angehörigen der Initiative "Ortenauer Eltern und Menschen mit Herz" (Vereinigung von Gegnern der Corona-Maßnahmen in Kooperation mit "aufrecht:freidenken") ein.

Das Kind wurde für die Kindesanhörung vom 15.03.2022 krank gemeldet (Attest Dr. W.), für den Folgetermin vom 06.04.2022 erneut (Attest Dr. V.).

Im einem parallelen einstweiligen Anordnungsverfahren (1 F 74/22) erteilte das Familiengericht den Eltern das vorläufige Gebot, für eine regelmäßige Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Der Beschluss mit Datum vom 07.04.2022, ausgefertigt am nächsten Tag, konnte trotz Monierung vom 09.05.2022 zunächst nicht an den Rechtsanwalt der Eltern zugestellt werden. Die Zustellung erfolgte daraufhin mit Zustellungsurkunde am 15.06.2022, d.h. nach dem Beschluss im Hauptsacheverfahren (1 F 334/21). Die Beschwerde der Eltern vom 21.06.2022 gegen d...

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