Verfahrensgang

LG Mönchengladbach (Entscheidung vom 15.07.2011)

AG Mönchengladbach (Entscheidung vom 23.02.2010; Aktenzeichen 58 Gs 155/10)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Mönchengladbach vom 15. Juli 2011 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 23. Februar 2010 (58 Gs 155/10) aufgehoben.

Der Angeklagte ist sofort aus der Untersuchungshaft in dieser Sache zu entlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.

 

Gründe

Der Angeklagte befindet sich seit dem 25. Februar 2010 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Die Hauptverhandlung hat am 24. August 2010 begonnen; am 15. Juli 2011 hat ihn das Landgericht Mönchengladbach wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und die Haftfortdauer angeordnet. Der Angeklagte hat Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Seine Haftbeschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat, ist erfolgreich.

Soweit gegen den Angeklagten aus den Gründen des nicht rechtskräftigen Urteils dringender Tatverdacht und zudem der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehen, sind der angefochtene Beschluss sowie der Haftbefehl dennoch aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebotes unverhältnismäßig wäre (§ 120 Abs. 1 S. 1 StPO). Die Sache wurde bei Gericht nicht mit dem Nachdruck betrieben, der in Haftsachen von Verfassungs wegen geboten ist.

1. Untersuchungshaft als stärkster Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) darf nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders als durch die vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen gesichert werden kann. Daraus folgt, dass Haftsachen stets vorrangig und mit besonderer Beschleunigung zu bearbeiten sind. In jeder Lage des Verfahrens müssen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die Taten herbeizuführen, die einem Beschuldigten vorgeworfen werden (st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, zuletzt 2 BvR 2781/10 vom 4. Mai 2011, Rdnr. 13 ≪www.bundesverfassungsgericht.de≫; Senat, StV 2007, 92). Die Sachbehandlung bei Gericht wurde diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht.

2. Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht bereits im Zwischenverfahren nach §§ 199 ff. StPO Geltung. Auch in diesem Stadium muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden (BVerfG a.a.O., Rdnr. 15). Dies ist hier nicht ersichtlich. Die Anklage wurde beiden Angeklagten Mitte April 2010 unter Einräumung einer zehntägigen Stellungnahmefrist - von der beide Angeklagte keinen Gebrauch machten - zugestellt. Bei Eröffnung des Hauptverfahrens am 11. August 2010 stellte sich die Prozesslage gegenüber dem Zeitpunkt des Ablaufs der Fristen zur Stellungnahme unverändert dar. Es ist kein tragfähiger Grund erkennbar, weshalb das Landgericht in dieser Zeit von der Eröffnung des Hauptverfahrens abgesehen hat.

3. Auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens wurde die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben.

a) In der Sache wurde in 47 Kalenderwochen an 22 Tagen verhandelt, davon mehrere “Schiebetermine„. Schon damit drängt sich auf, dass die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben wurde. Eine Sitzungsfrequenz von nur knapp zwei Hauptverhandlungsterminen pro Monat wird dem Beschleunigungsgebot nicht gerecht. Ob eine derartige Terminierung durch besonders aufwändige Verhandlungen ausgeglichen wird, kann dahinstehen, denn das war nicht der Fall. Insgesamt wurde 27 Stunden und 2 Minuten verhandelt. Das sind im Schnitt knapp 1 Stunde und 15 Minuten pro Tag; der längste Sitzungstag hat 2 Stunden und 51 Minuten gedauert.

b) Der schleppende Fortgang der Verhandlung ist nicht mit Besonderheiten der Beweislage zu erklären. Von Anfang an hatte sich aufgedrängt, dass der Angeklagte keine Geständnis ablegen würde. Bei seiner Vernehmung durch das Bundeskriminalamt hat er die Vorwürfe bestritten, bei Verkündung des Haftbefehls sich nicht eingelassen. Auch der Mitangeklagte Ata hat bei seiner polizeilichen Vernehmung kein umfassendes Geständnis abgelegt. Es war deshalb offenkundig, dass auf weitere Beweismittel zurückgegriffen werden musste, insbesondere auf die Mitschnitte der etwa 70 zwischen den Angeklagten und weiteren Personen auf türkisch geführten Telefonate. Nachdem sich in der (vierten) Sitzung am 28. September 2010 herausgestellt hatte, dass wegen der schlechten Klangqualität der T...

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