Leitsatz (amtlich)

Wer ein öffentliches Verkehrsmittel betritt, weiß, dass die Fahrer unter Zeitdruck stehen und ihren Fahrplan einhalten müssen, sodass sie gezwungen sind, zügig anzufahren. Wer sich in einer solchen Situation Zeit nimmt, einen Sitzplatz in Ruhe auszuwählen, muss selbst dafür Sorge tragen, dass die typischen Gefahren der öffentlichen Nahverkehrsmittel - wie Anfahrruck, unvermitteltes Bremsen, rutschiger Boden durch Nässe oder Stolperfallen durch abgestellte Taschen - ihn nicht zu Fall bringen.

Gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine sonstige Ursache des Sturzes eines Fahrgastes, spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Sturz jedenfalls weit überwiegend auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist; kann der Anscheinsbeweis nicht entkräftet werden, tritt die auf Seiten des Betreibers des Linienbusses zu berücksichtigende Betriebsgefahr vollständig zurück.

 

Verfahrensgang

LG Stade (Aktenzeichen 5 O 33/18)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 10. Oktober 2018 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stade ≪5 O 33/18 ≫ wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil und das vorgenannte Urteil des Landgerichts Stade sind vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 13.298,99 EUR festgesetzt.

 

Gründe

(§§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO):

I. Nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme ist die Berufung des Klägers unbegründet. Es ist nicht zu beanstanden, dass die 5. Zivilkammer des Landgerichts Stade die Klage abgewiesen hat. Eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, §§ 280, 831 BGB ist vorliegend zu verneinen, weil das Mitverschulden des Klägers gemäß § 9 StVG, § 254 BGB derart überwiegt, dass er für die Folgen seines Sturzes am 14. Juni 2016 in Cuxhaven in einem Linienbus der Beklagten zu 1) allein zu tragen hat und ihm keinerlei Schadensersatzansprüche gegenüber den Beklagten zustehen. Nach Vernehmung der Zeugin H. steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger es versäumt hat, sich auf den ersten freien Sitzplatz zu setzen, nachdem er die Fahrkarten für sich und seine Ehefrau gekauft hatte. Hätte er dies getan, hätte der Anfahrvorgang seitens des Beklagten zu 2) ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen können, sodass er nicht stürzen und sich hätte verletzen können.

Gemäß § 14 Abs. 3 Nr. 3 und 4 BOKraft war der Kläger verpflichtet, Durchgänge sowie Ein- und Ausstiege freizuhalten sowie sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Das stellt zwar einen gewissen Widerspruch dar: Einerseits musste der Kläger den Bereich neben dem Fahrer, in dem man üblicherweise die Fahrtickets für einen Bus einkauft und bezahlt, freimachen. Dazu dürfte er einige Schritte im Gang bis zur nächsten Stange oder Griff gemacht haben müssen, um einen festen Halt zu finden. Ein Fahrgast kann nicht gleichzeitig den Eingang freimachen und sich sicher festhalten, weil das Freimachen des Einganges erfordert, dass er einige Schritte im Bus gehen muss, ohne sich festhalten zu können. Nach der Vernehmung der Zeugin H. steht aber fest, dass der Kläger genügend Zeit vom Kauf der Fahrkarten bis zum Anfahren des Busses gehabt hat, um sich auf einen freien Platz zu setzen.

Die Zeugin H. hat bekundet, der Kläger habe nach dem Bezahlen die Sperre zu den Plätzen im Bus durchschritten gehabt, bevor er wegen eines abrupten Anfahrens gestürzt sei. Das Geld und die Fahrkarten habe er bereits wieder in sein Portemonnaie gesteckt gehabt und letzteres in seine Hose. Dann sei er durch die Sperre gegangen. Der Bus sei ziemlich leer gewesen; auf der rechten Seite hätten ein paar Leute gesessen. Im Gang habe niemand mehr gestanden. Vorne links sei noch ein Platz frei gewesen. Es habe sich um einen hohen Sitz mit einer hohen Lehne auf dem Reifen gehandelt. Da habe ihr Mann nicht sitzen wollen, weil man von dort aus schlecht wieder hochkomme. Er habe auf einem normalen Sitz Platz nehmen wollen, wohl bei ihr - der Zeugin -. Der Kläger sei etwa 1,70 m groß, damals nicht korpulent gewesen, sondern sportlich.

Der Senat glaubt der Zeugin H.. Ihre Darstellung ist schlüssig und widerspruchsfrei. Sie war ersichtlich um wahrheitsgemäße Angaben bemüht und hat alle Fragen der Prozessbeteiligten offen und freimütig beantwortet. Eines persön lichen Eindrucks des Senats vom Kläger und seiner Anhörung gemäß § 141 ZPO bedurfte es nicht. Der Sachverhalt konnte durch die Aussage der Zeugin H. hinreichend aufgeklärt werden. Sie hat das schriftsätzliche Vorbringen des Klägers im Wesentlichen bestätigt. Eine weitere Aufklärung des Geschehens durch die persönlichen Schilderungen seitens des Klägers wäre nicht zu erwarten, zumal es bei der Beurteilung des Rechtsstreits maßgeblich um die Rechtsfrage geht, ob die Haftung der Beklagten zurücktritt oder nicht.

Den Bekundungen der Zeugin H. zufolge hatte der Kläger vor dem Anfahren des Busses genügend Zeit und Gelegenheit, um sich auf einen...

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