Entscheidungsstichwort (Thema)

Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Grundsatz der praktischen Konkordanz. Sachlicher Grund für unterschiedlich hohe Nachtarbeitszuschläge. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags

 

Leitsatz (amtlich)

Die Festlegung unterschiedlich hoher Nachtarbeitszuschläge bei regelmäßiger Nachtarbeit oder ständiger Nachtschichtarbeit einerseits und unregelmäßiger Nachtarbeit andererseits im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Milchindustrie, für das Molkerei- und Käsereigewerbe sowie für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Schmelzkäseindustrie in Bayern in der Fassung vom 15.11.1999 verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Den Tarifvertragsparteien steht als selbstständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Artikel 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.

2. Vor dem Hintergrund der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG sind im Einzelfall Koalitionsfreiheit und darauf aufbauende Tarifregelungen und damit kollidierende Grundrechte wie der Gleichheitssatz zu einem Ausgleich zu bringen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz mit dem Ziel möglichst weitgehender Wirksamkeit für die Beteiligten.

3. Eine Regelung in einem Tarifvertrag, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, verstößt dann nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist. Dieser sachliche Grund muss aus dem Tarifvertrag erkennbar sein.

4. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben.

 

Normenkette

GG Art. 3, 9 Abs. 3; TVG § 1; ArbZG § 6 Abs. 5; MTV Milchindustrie Bayern Fassung:1999-11-15 § 5 Nr. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Würzburg (Entscheidung vom 13.05.2020; Aktenzeichen 1 Ca 1333/19)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Arbeitsgerichtes Würzburg vom 13.05.2020 - 1 Ca 1333/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe der tariflichen Nachtarbeitszuschläge.

Der 1969 geborene Kläger ist seit dem 04.05.1992 bei der Beklagten als gewerblicher Mitarbeiter in Vollzeit mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 3.306,00 € brutto in der Tarifgruppe Vi (3) beschäftigt. Er leistet regelmäßig Nachtschichtarbeit.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund beidseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Milchindustrie, für das Molkerei- und Käsereigewerbe sowie für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Schmelzkäseindustrie in Bayern in der Fassung vom 15.11.1999 (im Folgenden: MTV Milchindustrie) Anwendung.

Der MTV Milchindustrie lautet auszugsweise wie folgt:

"§ 4

Schichtarbeit, Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1. - 4. ...

5. a. Regelmäßige Nachtarbeit oder ständige Nachtschichtarbeit ist die nach festem Zeitplan geleistete Arbeit, im Molkerei- und Käsereigewerbe die in der Zeit von 20.00 Uhr bis 5.00 Uhr oder von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit,

in der Milchindustrie die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr oder 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit ...

b. Unregelmäßige Nachtarbeit ist die in der Zeit von 20:00 Uhr bis 6:00 Uhr von Fall zu Fall geleistete Arbeit.

Sie liegt auch vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb fester Zeitpläne einzelne Nachtschichten zu leisten hat oder kurzfristig ein Wechsel des Rhythmus von der ersten oder zweiten in die dritte Schicht bzw. von Normalarbeitszeit in die Nachtschicht angeordnet wird.

6. ...

§ 5

Zuschläge für Schichtarbeit, Mehrarbeit und Nachtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit Die Zuschläge betragen:

1. In der Milchindustrie

a. - b. ...

c. für regelmäßige Nachtarbeit bzw. Nachtschichtarbeit 25%

d. für unregelmäßige Nachtarbeit 50%

2. Im Molkerei- und Käsereigewerbe

a. - d. ...

e. für regelmäßige Nachtarbeit, die nach festem Zeitplan geleistet wird, und für Nachtschichtarbeit, die im wöchentlichen Wechsel mit Tagesarbeit durchgeführt wird 25%

f. für unregelmäßige Nachtarbeit 50%

zur Stundenvergütung.

...

§ 12 Schichtfreizeit

1. a) Arbeitnehmer, die ausschließlich in Nachtar...

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