BVerfG, Beschl. v. 17.11.2023 – 1 BvR 1076/23

1. Die fachgerichtliche Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB auf den Vater unterliegt der verfassungsgerichtlichen Prüfung im Hinblick darauf, ob sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite des Elternrechts der Mutter nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG beruht. Das ist in mehrfacher Hinsicht der Fall, wenn die Entscheidung dem Elternrecht der Mutter materiell, durch die Verfahrensgestaltung und die Entscheidungsbegründung nicht hinreichend Rechnung trägt.

2. Die Begründung der Sorgerechtsentscheidung muss erkennen lassen, dass das Fachgericht eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen hat. Dies ist nicht der Fall, wenn die Entscheidung nicht ausdrücklich auf ein in einem Vorverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten eingeht, das eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Mutter empfohlen hat, sich mit einer entsprechenden Stellungnahme des Verfahrensbeistandes nicht auseinandersetzt und sich nicht eingehend mit dem abweichenden ernsthaften, stabilen und zielorientierten Kindeswillen befasst.

3. Eine grundlegende Verkennung der Bedeutung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) liegt vor, wenn das Fachgericht in seiner Begründung maßgeblich darauf abstellt, die Mutter entfremde dem Vater die Kinder, weil damit nicht hinreichend deutlich wird, ob sich das Gericht gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben vorrangig am Wohl des Kindes orientiert und nicht das als Fehlverhalten bewertete Agieren der Beschwerdeführerin sanktionieren will. Mit der herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird darüber hinaus auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndroms (kurz PAS) zurückgegriffen. Damit fehlt eine hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung.

(red. LS)

KG, Beschl. v. 9.11.2023 – 16 UF 105/23

1.a) Eine vom Familiengericht erklärte Ablehnung, von Amts wegen familiengerichtliche Maßnahmen zu ergreifen, ist (von Sonder- und Ausnahmefällen abgesehen) regelmäßig für denjenigen, der entsprechend § 24 Abs. 1 FamFG lediglich anregt, dass entsprechende familiengerichtliche Maßnahmen getroffen werden sollen, nicht anfechtbar. Das gilt auch für ein Jugendamt, zumal das Jugendamt durch das Unterlassen von familiengerichtlichen Maßnahmen materiell nicht betroffen ist, so dass es daraus auch keine Beschwerdebefugnis herleiten kann.

b) Die besondere Beschwerdebefugnis des Jugendamtes nach §§ 59 Abs. 3, 162 Abs. 3 S. 2 FamFG ist letztlich Ausfluss des dem Jugendamt übertragenen staatlichen Wächteramtes, so dass das Jugendamt, sobald eine familiengerichtliche Entscheidung nach dessen fachlicher Einschätzung mit dem Wohl des Kindes nicht zu vereinbaren ist, nach Beitritt zum Verfahren berechtigt ist, Beschwerde zu führen. Im Interesse einer effektiven Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes ist die Beschwerdebefugnis des Jugendamtes nicht kleinlich, sondern weit zu dimensionieren.

2. Es ist nicht Aufgabe eines Familiengerichts, zwischen verschiedenen pädagogischen Konzepten oder fachlichen Differenzen und gravierenden Kommunikationsproblemen von zwei Fachdienststellen – einem freien Träger der Jugendhilfe sowie dem Jugendamt – zu vermitteln oder gar deren fachlichen Disput zu entscheiden, solange dieser das Wohl des Kindes nicht berührt. Auch in derartigen Fällen entscheidet das Familiengericht vielmehr allein und ausschließlich nach rechtlichen Maßstäben, insbesondere nach den Vorgaben der §§ 1804 Abs. 1 Nr. 1, 1813, 1666, 1696 BGB.

3.a) Eine Geschwistertrennung ist nicht nur im Rahmen einer Sorgerechtsregelung, sondern auch bei der Entscheidung über einen Wechsel der Pflegestelle grundsätzlich zu vermeiden, soweit hierfür nicht belastbare Gründe streiten und eine Gefährdung des Kindeswohls mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

b) Da dem Wohl des Kindes mit möglichst einheitlichen, gleichmäßigen und stabilen Erziehungsverhältnissen und ebensolchen äußeren Umständen regelmäßig am besten gedient ist, darf das darin zum Ausdruck kommende "Kontinuitätsprinzip" nicht gegen den Gesichtspunkt einer (im Wesentlichen erst herzustellenden) Geschwisterbindung "ausgespielt" und ein Kind im Interesse der "Geschwisterzusammenführung" aus einer Pflegestelle herausgenommen werden, wenn das Kind in der Pflegestelle praktisch seit seiner Geburt lebt, die Pflegemutter als seine soziale Mutter ansieht und auch sonst keinerlei "Mängel" in der Betreuung und Versorgung des Kindes in der Pflegestelle ersichtlich sind.

4. Dem Verfahrensbeistand obliegt es in erster Linie, die Interessen des Kindes festzustellen und im familiengerichtlichen Verfahren geltend zu machen, aber regelmäßig nicht, sich zu eindeutig jugendhilferechtlichen Fragestellungen zu positionieren, die nicht die Person des Kindes oder dessen Wohl, sondern allein verfahrensrechtliche Aspekte des vom Jugendamt geführten Hilfeplanverf...

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