Leitsatz (amtlich)
1. Die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung ist grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Er hat die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen. Ähnlich wie beim Schmerzensgeld sind dabei sowohl der Ausgleichs- als auch der Genugtuungsgedanke in den Blick zu nehmen.
2. Maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten.
3. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar.
4. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte.
Normenkette
BGB § 844 Abs. 3; StVG § 10; ZPO § 287
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 23. Februar 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Anspruch.
Rz. 2
Am 13. Dezember 2018 wurde der 81-jährige Vater der Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Pkw hatte bei der Ausfahrt von einem Parkplatz den vorfahrtsberechtigten Pkw des Vaters der Klägerin übersehen. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Der Unfallgegner wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung mit Strafvorbehalt verwarnt.
Rz. 3
Zwischen der Klägerin und ihrem Vater bestand eine enge emotionale Verbundenheit. Die Klägerin verfügte über sämtliche Vollmachten ihres Vaters, außerdem war sie die erste Ansprechpartnerin, wenn es für ihren Vater "etwas zu regeln" gab. Jedenfalls bis zur mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz litt die Klägerin unter Schlafstörungen, die zumindest auch auf den plötzlichen Unfalltod ihres Vaters zurückzuführen sind.
Rz. 4
Vorgerichtlich zahlte die Beklagte der Klägerin ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 3.000 €. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zahlung eines in das Ermessen des Gerichts gestellten weiteren Hinterbliebenengeldes, mindestens jedoch 7.000 €.
Rz. 5
Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 3.500 € verurteilt. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert, soweit die Klage abgewiesen worden war, und die Beklagte zur Zahlung von weiteren 3.500 € verurteilt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 6
Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil unter anderem in DAR 2021, 332 veröffentlicht ist, steht der Klägerin für das durch den Unfalltod ihres Vaters erlittene seelische Leid eine angemessene Entschädigung aus § 10 Abs. 3 StVG zu. Maßstab für die Bemessung der geschuldeten Entschädigung sei die konkrete Beeinträchtigung. Durch den Verlust naher Angehöriger könnten seelische Beeinträchtigungen von besonderer Komplexität verursacht werden. Die Dauer von seelischem Leid sei nicht prognostizierbar. Wie beim Schmerzensgeld seien sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion zu berücksichtigen. Der in der Kostenschätzung des Gesetzentwurfs genannte Betrag von 10.000 € stelle keine "Obergrenze", sondern einen "Anker" bzw. eine "Orientierungshilfe" für die Bemessung dar. Eine Auslegung des Hinterbliebenengeldes als Minus gegenüber dem Anspruch auf Ersatz eines Schockschadens werde der Differenzierung zwischen körperlich/psychischem und seelischem Leid nicht gerecht. Es handele sich um zwei unterschiedliche, in keinem Stufenverhältnis stehende Ansprüche. Während das Schmerzensgeld wegen eines Schockschadens pathologische psychische Schmerzen ausgleichen solle, gehe es beim Hinterbliebenengeld um die Abgeltung von Trauer und Betroffenheit der Seele. Andauernde seelische Schmerzen könnten aber eine gleichwertige oder sogar - je nach Dauer und Intensität - höhere Betroffenheit auslösen. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes müsse sich außerdem in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens-/Hinterbliebenengeld einfügen. Das europäische Entschädigungsniveau liege in vergleichbaren Fällen deutlich höher als 10.000 €. So würden im Nachbarland Österreich zwischen 10.000 € und 25.000 € Hinterbliebenengeld gezahlt.
Rz. 7
Unter Berücksichtigung dieser generellen Erwägungen sei die der Klägerin zustehende Entschädigung gemäß § 287 ZPO auf insgesamt 10.000 € zu bemessen.
II.
Rz. 8
Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
Rz. 9
1. Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden und von der Revision nicht angegriffen ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, wonach der Klägerin gegen die Beklagte wegen den Unfalltods ihres Vaters dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes aus § 18 Abs. 1 Satz 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG zusteht. Da der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs den Unfall und den dabei eingetretenen Tod des Vaters der Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts durch einen groben Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO verursacht hat, ergibt sich der Anspruch überdies aus § 823 Abs. 1, § 844 Abs. 3 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Nach den gleichlautenden Bestimmungen in § 844 Abs. 3 BGB und § 10 Abs. 3 StVG, die mit dem Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld vom 17. Juli 2017 (BT-Drucks. 18/11397, BGBl. I 2017, 2421) neu geschaffen worden sind, hat der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten.
Rz. 10
2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung durch das Berufungsgericht.
Rz. 11
a) Zwar ist die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und sich um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Ausmaß des durch den Tod zugefügten seelischen Leids bemüht hat. Die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie als zu dürftig oder als zu reichlich erscheint; insoweit ist es der Revision verwehrt, ihre Bewertung an die Stelle des Tatrichters zu setzen (vgl. zur Anwendbarkeit des § 287 ZPO: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld, BT-Drucks. 18/11397 vom 7. März 2017, S. 14; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 876; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 106; zum Schmerzensgeld: Senatsurteile vom 22. März 2022 - VI ZR 16/21, VersR 2022, 819 Rn. 7; vom 15. Februar 2022 - VI ZR 937/20, VersR 2022, 712 Rn. 11; jeweils mwN).
Rz. 12
b) Die Revision rügt aber zu Recht, dass die Erwägungen des Berufungsgerichts zu den Grundlagen der Bemessung von Rechtsfehlern beeinflusst sind.
Rz. 13
aa) Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Festsetzung der Hinterbliebenenentschädigung nicht lediglich eine schematische Bemessung vorgenommen werden darf, sondern die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten ist und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen sind. Die Bestimmungen in § 844 Abs. 3 BGB und § 10 Abs. 3 StVG gewähren einen Anspruch auf Ersatz eines Nichtvermögensschadens (vgl. Senatsurteil vom 8. Februar 2022 - VI ZR 3/21, BGHZ 233, 1 Rn. 33; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 870, 872; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 105; ders., NJW 2017, 2641, 2642). Sie sehen für immaterielle Nachteile - die seelischen Beeinträchtigungen, die durch den Verlust einer geliebten Person eintreten wie insbesondere Trauer und Niedergeschlagenheit (vgl. MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 105, Huber, in: NK-BGB, 4. Aufl., § 844 Rn. 133) - eine "angemessene Entschädigung in Geld" vor. Insoweit entsprechen sie den in § 253 Abs. 2 BGB, § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG geregelten Ansprüchen auf Ersatz immateriellen Schadens (vgl. Katzenmeier, JZ 2017, 869, 875), für die die Pflicht des Tatrichters, die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen, anerkannt ist (vgl. zu § 253 BGB: BGH, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48 ff.; Senatsurteile vom 22. März 2022 - VI ZR 16/21, VersR 2022, 819 Rn. 8; vom 8. Februar 2022 - VI ZR 409/19, VersR 2022, 635 Rn. 11 f.; zu § 15 AGG: Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, BT-Drucks. 16/1780, S. 38; BAG, NJW 2010, 2970 Rn. 39). Dementsprechend verweist der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 7. März 2017 (BT-Drucks. 18/11397, S. 14) ausdrücklich darauf, dass die Bestimmung der Anspruchshöhe den Gerichten überlassen werde, welche Erwägungen der Angemessenheit zu Grunde zu legen und § 287 ZPO anzuwenden hätten. Nach § 287 Absatz 1 Satz 1 ZPO entscheidet das Gericht über die streitige Frage, wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, unter Würdigung aller Umstände.
Rz. 14
bb) Wie das Berufungsgericht weiter zutreffend angenommen hat, sind bei der Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung ähnlich wie beim Schmerzensgeld sowohl der Ausgleichs- als auch der Genugtuungsgedanke zu berücksichtigen. Die Entschädigung soll dem Hinterbliebenen einen gewissen Ausgleich bieten für die seelischen Beeinträchtigungen, die durch den Tod einer geliebten Person eintreten; auch wenn ein echter Ausgleich nicht möglich ist, soll mit der Entschädigung das mit dem Verlust des Angehörigen verbundene seelische Leid wenigstens gelindert werden (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld, BT-Drucks. 18/11397, S. 1, 8; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 872; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 4, 105; Huber, in: NK-BGB, 4. Aufl., § 844 Rn. 180 ff.). Zugleich soll die Hinterbliebenenentschädigung aber auch dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Hinterbliebenen für das, was er ihm durch die Herbeiführung des Todes einer geliebten Person angetan hat, Genugtuung schuldet (vgl. OLG Celle, Urteil vom 24. August 2022 - 14 U 22/22, ZfSch 2022, 558 Rn. 49; LG Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019 - 3 O 108/18, VersR 2020, 236, juris Rn. 81; LG Leipzig, Urteil vom 8. November 2019 - 5 O 758/19, DAR 2021, 95, juris Rn. 20; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 872; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 4, 105; eine Genugtuungsfunktion ablehnend: Huber, in: NK-BGB, 4. Aufl., § 844 Rn. 180 ff.; ders., in: FS-Schwintowski, 920, 947; ders., VersR 2020, 385, 389; Jaeger, VersR 2017, 1041, 1042; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 10 StVG Rn. 20; Pardey, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 7 Rn. 23; Nugel, ZfSch 2018, 72, 78; Steenbuck, r+s 2017, 449, 451; nur auf die Genugtuungsfunktion abstellend: G. Müller, VersR 2017, 321, 325; Eichelberger, in: BeckOGK BGB, Stand: 01.09.2022, § 844 Rn. 215; Jahnke, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., 7. Teil, § 844 BGB Rn. 221 ff.; Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Aufl., Rn. 310; Bredemeyer, ZEV 2017, 690, 692; Burmann/Jahnke, NZV 2017, 401, 410; Schiemann, GesR 2018, 69, 71). Da das Gesetz eine angemessene Entschädigung fordert, kann der Ausgleichszweck nicht allein maßgebend für das Ausmaß der Leistung sein. Das alleinige Abstellen auf den Ausgleichsgedanken ist unmöglich, weil sich immaterielle Schäden nicht und Ausgleichsmöglichkeiten nur beschränkt in Geld ausdrücken lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 46 f., 60; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, juris Rn. 15, 17; Senatsurteil vom 8. Februar 2022 - VI ZR 409/19, VersR 2022, 635 Rn. 12).
Rz. 15
cc) Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen sind maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, lassen sich dabei aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten (vgl. Katzenmeier, JZ 2017, 869, 872, 876; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 106; G. Müller, VersR 2017, 321, 325; Walter, MedR 2018, 213, 217; Steenbuck, r + s 2017, 449, 451 f.).
Rz. 16
dd) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen aber die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Verhältnis der Hinterbliebenenentschädigung zum Schmerzensgeld wegen eines sogenannten Schockschadens.
Rz. 17
(1) Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei dem Hinterbliebenengeld einerseits und dem Schockschadensersatz andererseits um unterschiedliche Rechtsinstitute handelt (vgl. Senatsurteil vom 8. Februar 2022 - VI ZR 3/21, BGHZ 233, 1 Rn. 20, 33). Während der Anspruch auf Gewährung eines Schmerzensgeldes wegen eines Schockschadens aus § 7 Abs. 1, § 11 StVG, § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB auf der Verletzung eines eigenen Rechtsguts beruht (vgl. auch Senatsurteil vom 26. Juli 2022 - VI ZR 58/21, VersR 2022, 1309 Rn. 14), setzt der Anspruch auf Hinterbliebenengeld aus § 10 Abs. 3 StVG, § 844 Abs. 3 BGB keine über Trauer und seelisches Leid hinausgehende gesundheitliche Beeinträchtigung des Hinterbliebenen im Sinne einer eigenen Gesundheitsverletzung voraus. Die Einführung dieses Anspruchs diente gerade dem Zweck, den Hinterbliebenen auch für Beeinträchtigungen unterhalb dieser Schwelle einen Anspruch auf angemessene Entschädigung einzuräumen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 22. März 2017 zur Herbeiführung der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 18/11615, S. 6). Dementsprechend knüpft das Hinterbliebenengeld auf der Ebene der Haftungsbegründung an die Verletzung eines fremden Rechtsguts, des in § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB geschützten Lebens des Getöteten, an und sucht erst auf der Ebene der Haftungsausfüllung den eigenen Gefühlsschaden der Hinterbliebenen zu entschädigen. Dass in beiden Fällen dem Erstverletzten nahestehende Personen eine finanzielle Entschädigung für eigene immaterielle Beeinträchtigungen erhalten, ändert nichts an ihrer unterschiedlichen dogmatischen Herleitung (vgl. Senatsurteil vom 8. Februar 2022 - VI ZR 3/21, BGHZ 233, 1 Rn. 33 mwN).
Rz. 18
(2) Es ist revisionsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannten Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) als Orientierungshilfe und nicht als Obergrenze für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung angesehen hat (so auch OLG Celle, Urteil vom 24. August 2022 - 14 U 22/22, ZfSch 2022, 558 Rn. 47; OLG Köln, Urteil vom 5. Mai 2022 - 18 U 168/21, VersR 2022, 1109, juris Rn. 36 f.; OLG Koblenz, Beschluss vom 31. August 2020 - 12 U 870/20, NJW 2021, 168 Rn. 12 f., jeweils mwN; LG Leipzig, Urteil vom 8. November 2019 - 5 O 758/19, DAR 2021, 95, juris Rn. 17, 19; LG Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019 - 3 O 108/18, VersR 2020, 236, juris Rn. 79 ff.; aA LG Wiesbaden, Beschluss vom 23. Oktober 2018 - 3 O 219/18, SVR 2020, 142, juris Rn. 1). Dieser Betrag wird lediglich im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung im Rahmen der nach § 1 Abs. 3, § 2 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates (NKRG) gebotenen Darstellung des Erfüllungsaufwands des Gesetzes genannt und ausdrücklich als Durchschnittsbetrag bezeichnet, der zur damaligen Zeit von den Gerichten bei der Tötung eines Angehörigen als Entschädigung für sogenannte Schockschäden zugesprochen worden sei. Ein im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung im Rahmen der Gesetzesfolgenbewertung genannter und ausdrücklich als Durchschnittsbetrag bezeichneter Wert kann aber keine verbindliche Aussage über die Angemessenheit der Hinterbliebenenentschädigung im konkreten Fall treffen, deren Bestimmung der Gesetzgeber im besonderen Teil der Gesetzesbegründung ausdrücklich den Gerichten unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles überantwortet hat (vgl. OLG Köln, Urteil vom 5. Mai 2022 - 18 U 168/21, VersR 2022, 1109, juris Rn. 28 ff.). Ungeachtet der Frage seiner tragfähigen Herleitung (krit. Doukoff, in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand 11.04.2022, § 844 BGB Rn. 155; Quaisser, DAR 2017, 688, 691; Jaeger, VersR 2017, 1041, 1053 ff.; G. Müller, VersR 2017, 321, 325) kann er vielmehr nur eine Orientierungshilfe bieten, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann (vgl. OLG Celle, Urteil vom 24. August 2022 - 14 U 22/22, NJW-RR 2022, 1472 ZfSch 2022, 558 Rn. 47; OLG Köln, Urteil vom 5. Mai 2022 - 18 U 168/21, VersR 2022, 1109, juris Rn. 36 f.; OLG Koblenz, Urteil vom 21. Dezember 2020 - 12 U 711/20, VersR 2021, 320, juris Rn. 33 f.; Beschluss vom 31. August 2020 - 12 U 870/20, NJW 2021, 168 Rn. 12 ff.; LG Leipzig, Urteil vom 8. November 2019 - 05 O 758/19, DAR 2021, 95, juris Rn. 19; LG München II, Urteil vom 17. Mai 2019 - 12 O 4540/18, DAR 2020, 464, juris Rn. 34; LG Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019 - 3 O 108/18, VersR 2020, 236, juris Rn. 79; Böhme/Biela/Tomson, Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden, 26. Aufl., Kap. 4 Rn. 227; Huber, in: Huber/Kadner Graziano/Luckey, Hinterbliebenengeld, 1. Aufl., Teil 1, § 1 Rn. 101; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 10 StVG Rn. 20; Pardey, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 StVG Rn. 13; Slizyk, in: Handbuch Schmerzensgeld, 19. Aufl., Rn. 340; Spindler, in: BeckOK BGB, Stand: 01.08.2022, § 844 Rn. 46; Sprau, in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 844 Rn. 25; Staudinger, in: HK-BGB, 11. Aufl., § 844 Rn. 17; ders., DAR 2019, 601, 602; Walter, in: BeckOGK StVG, Stand: 01.01.2022, § 10 Rn. 32; Nugel, ZfSch 2018, 72, 76; Oehler, ZtdR 2019, 93, 105; aA wohl LG Wiesbaden, Beschluss vom 23. Oktober 2018 - 3 O 219/18, SVR 2020, 142, juris Rn. 1; Lang, ZfSch 2020, 64, 72; unklar Frank, FamRZ 2017, 1640, 1642; Pardey, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 7 Rn. 26; Lang/Bucka, DAR 2020, 445, 448).
Rz. 19
(3) Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung könne unabhängig von der Höhe des Schmerzensgeldes erfolgen, das dem Hinterbliebenen zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte; die Hinterbliebenenentschädigung sei im Ausgangspunkt insbesondere nicht niedriger als das Schmerzensgeld zu bemessen.
Rz. 20
Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Die Entschädigung soll seelisches Leid lindern, das diese Schwelle nicht erreicht (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 22. März 2017 zur Herbeiführung der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 18/11615, S. 6; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld, BT-Drucks. 18/11397, S. 8, 14; BT-Plenarprotokoll 18/234, 23801 B; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 872, 876; Walter, MedR 2028, 213, 217; Wagner, NJW 2017, 2641, 2645; Huber, VersR 2020, 385, 389). Dementsprechend wird in dem Gesetzentwurf darauf hingewiesen, dass bei der Anspruchsbemessung die Höhe des Schmerzensgeldes bei Schockschäden zwar eine gewisse Orientierung geben könne, dabei allerdings zu berücksichtigen sei, dass der Anspruch auf Hinterbliebenengeld keine Rechtsgutsverletzung voraussetze (vgl. BT-Drucks. 18/11397, S. 14); der für die Tötung Verantwortliche habe dem Hinterbliebenen unabhängig vom Nachweis einer medizinisch fassbaren Gesundheitsbeeinträchtigung eine Entschädigung für dessen seelisches Leid zu leisten (vgl. BT-Drucks. 18/11397, S. 8).
Rz. 21
Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen muss deshalb der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (vgl. BT-Drucks. 18/11397, S. 14; BT-Plenarprotokoll 18/234, 23801 B, C; OLG Koblenz, Beschluss vom 31. August 2020 - 12 U 870/20, NJW 2021, 168 Rn. 18; LG Leipzig, Urteil vom 8. November 2019 - 05 O 758/19, DAR 2021, 95, juris Rn. 19; LG Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019 - 3 O 108/18, VersR 2020, 236, juris Rn. 80; G. Müller, VersR 2017, 321, 324; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 872, 876; Wagner, NJW 2017, 2641, 2645; Walter, MedR 2018, 213, 217; Baur, Das Hinterbliebenengeld, S. 117; Doukoff, in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand: 11.04.2022, § 844 BGB Rn. 156 f.; Jahnke, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., 7. Teil, § 844 BGB Rn. 229; Weinland, in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand: 01.12.2021, § 5 HPflG Rn. 27; Schiemann, GesR 2018, 69, 72 unter Ziffer V a.E.; aA Luckey, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 17. Aufl., § 844 Rn. 22; Staudinger, in: HK-BGB, 11. Aufl., § 844 Rn. 17). Wie dieses Abstandsgebot im Einzelfall gewahrt wird, unterliegt der tatrichterlichen Beurteilung.
Rz. 22
ee) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht schließlich angenommen, das Hinterbliebenengeld müsse sich der Höhe nach in das Gesamtgefüge der europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens- und Hinterbliebenengeld einfügen. Die Frage, welcher Betrag "angemessen" ist, um das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid gemäß § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG in Geld zu entschädigen, kann - wie bei der Bemessung des einem Geschädigten gemäß § 253 Abs. 2 BGB zustehenden Schmerzensgelds - nur in Ansehung der in Deutschland geltenden Lebensverhältnisse und der deutschen Gesamtrechtsordnung beantwortet werden. Abgesehen von den unterschiedlichen Lebensverhältnissen ist der Ersatz materieller und immaterieller Schäden in den europäischen Staaten rechtlich unterschiedlich ausgestaltet. Ein Vergleich mit dem Recht anderer Länder ist wenig aussagekräftig, wenn er nicht die gesamte Rechtsordnung in den Blick nimmt, sondern sich auf die punktuelle Herausnahme und isolierte Betrachtung einzelner Schadenspositionen und Einzelaspekte der verschiedenen Regulierungssysteme beschränkt (Katzenmeier, JZ 2017, 869, 873).
III.
Rz. 23
Das Berufungsurteil war aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die rechtsfehlerhaften Erwägungen des Berufungsgerichts zur Bemessungsgrundlage auf die Höhe der zuerkannten Hinterbliebenenentschädigung ausgewirkt haben. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung in Geld ist dem Tatrichter vorbehalten (vgl. zum Schmerzensgeld Senatsurteil vom 15. Februar 2022 - VI ZR 937/20, VersR 2022, 712 Rn. 29 mwN).
Seiters |
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von Pentz |
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Oehler |
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Klein |
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Böhm |
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Fundstellen
Haufe-Index 15524369 |
BGHZ 2023, 254 |
JR 2023, 495 |
ZAP 2023, 173 |
ZEV 2023, 471 |
DAR 2023, 434 |
JZ 2023, 180 |
JZ 2023, 279 |
JZ 2023, 568 |
MDR 2023, 295 |
MedR 2023, 478 |
FamRB 2023, 89 |
GesR 2023, 165 |
NJW-Spezial 2023, 105 |
SVR 2023, 299 |
r+s 2023, 182 |
Jura 2023, 1224 |