Arbeitnehmer unter Suizidverdacht: Beweislast für Arbeitsunfall?

Hat ein Arbeitnehmer einen Suizidversuch hinter sich oder anderweitig den Verdacht einer Selbstmordgefährdung geweckt, kann ihn bei einem Unfall auf dem Weg zur Arbeitsstätte die Beweislast dafür treffen, dass es sich um einen versicherten Arbeitsunfall handelt und nicht um einen (erneuten) Suizidversuch. Diese Ansicht wird in der Rechtsprechung aber nicht durchgängig vertreten.

Der Arbeitnehmer war morgens auf dem Weg in Richtung seiner Arbeit von einem Lkw auf gerader Strecke beim Überqueren einer innerörtlichen Durchgangsstraße angefahren und schwer verletzt worden. Er hatte aber gegenüber seiner Ehefrau vorher mehrfach Suizidabsichten geäußert und einige Monate zuvor auch einen Suizidversuch ausgeübt.

Eigenartiger Unfallablauf

Das von der Polizei eingeholte verkehrstechnische Gutachten hat ergeben, dass der Lkw-Fahrer die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts eingehalten hatte und der Unfall für den Lkw-Fahrer unvermeidbar gewesen war.

Der Lkw-Fahrer hatte ausgesagt, dass das Unfallopfer die Fahrbahn bereits überquert hatte und dann plötzlich wieder zurück auf die Straße getreten sei, womit er nicht gerechnet habe. Der Arbeitnehmer machte geltend, wichtige Arbeitspapiere und seine Arbeitsschuhe vergessen zu haben, weswegen er noch einmal umgekehrt sei. Bei der erneuten Straßenüberquerung habe er den Lkw aus Unachtsamkeit übersehen.

Abgrenzung Unfall/Selbstschädigung

Entscheidend für die Beurteilung ist der in § 8 Absatz 1 Satz 2 SGB VII verwendete Unfallbegriff.

  • Hiernach sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder wie hier zum Tode führen.
  • Mit der Formulierung „von außen“ bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass ein aus der betreffenden Person selbst kommendes Geschehen nicht als Unfall anzusehen ist (BSG, Urteil v. 12.4.2005, B 2 U 27/04).
  • Hierdurch soll der Unfallbegriff von Selbstschädigungen, zu denen auch der geplante Suizid gehört, abgegrenzt werden.

Berufsgenossenschaft lehnt Arbeitsunfall ab

 Die beklagte Berufsgenossenschaft hat einen Arbeitsunfall in Form eines Unfalls auf dem Weg mit der Begründung abgelehnt, es lägen Hinweise für einen erneuten Suizidversuch vor, denn der Lkw habe auf gerader Strecke nicht übersehen werden können. Damit wäre es ein Fall von Selbstschädigung, denn ein von der betreffenden Person selbst bewusst veranlasstes Geschehen nicht als Unfall anzusehen ist (BSG, Urteil v. 12.4.2005, B 2 U 27/04). Dem Begriff des Unfalls immer die Unfreiwilligkeit der Einwirkung immanent sei.

Beweislast für Arbeitsunfall liegt beim Arbeitnehmer

Die 4. Kammer des Sozialgerichts hat nach Beiziehung der polizeilichen Ermittlungsakte und Anhörung des Klägers entschieden, dass in Anbetracht der Gesamtumstände die Beweislast bzw. Feststellungslast dafür, dass ein Arbeitsunfall und kein (erneuter) Suizidversuch vorliegt, bei dem Kläger liegt.

Die Berufsgenossenschaft habe zu Recht darauf abgestellt, dass wegen der Erkrankungen des Klägers und dem nachgewiesenen früheren Suizidversuch die Voraussetzungen eines versicherten Arbeitsweges nicht erwiesen seien.

(SG Karlsruhe, Urteil v. 30.8.2016, S 4 U 2601/15).

Hintergrundwissen:

In anderen Fällen wurden allerdings vom Gericht hohe Beweishürden für die Versicherung an die Behauptung einer Selbsttötung gestellt.

  • Als anspruchsschädlicher Umstand sei für das Vorliegen einer Selbsttötung nach ständiger Rechtsprechung des BSG der Vollbeweis von demjenigen zu führen, der sich auf diesen Geschehensablauf berufe.
  • Dies sei regelmäßig die Versicherung, während Angehörige nicht beweisbelastet seien (BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 20/04).

Ein Vollbeweis sei aber nur dann erbracht, wenn ein Tatbestandsmerkmal in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung von dem Vorgang zu begründen.

Ein Vollbeweis sei nicht erbracht, wenn eine große Zahl nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließende Alternativmöglichkeiten in Betracht zu ziehen seien.

Unfallmerkmal: Unfreiwillig

Um einen Unfall anzunehmen, muss die Gesundheitsschädigung, jedoch nicht das Unfallereignis, unfreiwillig erfolgen (vgl. BGH VersR 1985, 177).

  • Freiwilligkeit liegt vor, wenn der Versicherungsnehmer den körperschädigenden Einfluss des Ereignisses gerade vorausgesehen und in seinen Willen mit aufgenommen hat.
  • Konkret fallen hierunter die Fälle, in denen der Verletzte sich selber verletzen wollte oder in Tötungsabsicht handelte, wie dies beim Suizid der Fall ist.

Besteht diese Verletzungs- oder Tötungsabsicht im Bereich des Verkehrsunfalls, sind die Ansprüche des Verletzten oder auch der Hinterbliebenen ausgeschlossen, da dann das Element der Unfreiwilligkeit nicht gegeben ist (OLG Köln VersR 1998, 883; BGH VersR 1998, 1231 und OLG Oldenburg NVersZ 1999, 380).

(Quelle: Deutsches Anwalt Office Premium)