Geisteswissenschaften im MBA-Studium

Künstliche Intelligenz kann dazu beitragen, Wissen zu vermitteln und bessere Ent­scheidungen zu treffen. Aber Menschen müssen die Fähigkeiten erwerben, die Tech­nologie weise einzusetzen. Deshalb bleiben die Geistes­wissenschaften ein unverzichtbarer Bestand­teil des MBA-Studiums, meint Santiago Iñiguez, Präsident der IE University, zu der die IE Business School mit Sitz in Madrid gehört.

Personalmagazin: Generative Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, die Art und Weise, wie wir mit Texten, Bildern und Videos umgehen, dauerhaft zu verändern. Wie gehen Sie damit an der IE University um? 

Santiago Iñiguez: Wir haben viele Initiativen vorangetrieben, indem wir Technologie in den Lernprozess integriert haben. Seit 2000 führen wir hybride Programme durch, die sowohl synchrones als auch asynchrones Lernen kombinieren. Und wir verwenden verschiedene Apps, um Inhalte zu vermitteln. Wir nutzen auch digitale Technologien, um multimediale Materialien für die Studieninhalte zu erstellen, wie beispielsweise Simulationen, Fallstudien oder Videos mit Protagonisten aus der Geschäftswelt. Wir sind überzeugt, dass Technologie das Lernen verbessert – besonders, weil sie es uns ermöglicht, den Lernprozess zu personalisieren und zu individualisieren. Wir können zum Beispiel Learning Analytics nutzen, um die Fähigkeiten und Lernfortschritte der Teilnehmenden zu bewerten. Dozentinnen und Dozenten können verfolgen, ob Studierende sich an bestimmten Diskussionen beteiligen oder nicht.

Personalmagazin: Und trägt generative KI etwas Neues zu Ihrem Ansatz bei? 

Iñiguez: Ja, definitiv. Denn sie bietet einen Ausgangspunkt für Diskussionen in den Klassen. Das ist viel reichhaltiger als traditionelle Inhalte, die zur Sitzungsvorbereitung und zur Vertiefung bereitgestellt werden. Das intensiviert den gesamten Lernprozess. Normalerweise erlauben wir den Teilnehmenden, generative KI-Tools wie Chat GPT zu verwenden, wenn sie das möchten. Es gibt so viele verschiedene Quellen im Internet, die aktualisierte Informationen liefern, die für das Lernen und die Diskussion im Unterricht sehr hilfreich sind. Es ist entscheidend, dass Studierende, Teilnehmende und Führungskräfte nach Informationen suchen. Sie haben wahrscheinlich im Studium Bibliotheken besucht. Die Suche nach Informationen bietet auf sehr indirekte Weise Gelegenheiten zum lateralen Denken. Man erweitert dabei das transversale Wissen und findet einfach durch Zufall neue Ideen.

Bedeutung der Geisteswissenschaften im MBA-Studium

Personalmagazin: Wird Künstliche Intelligenz bald Bibliotheken ersetzen? 

Iñiguez: Auf keinen Fall! Um über den Tellerrand hinaus zu denken, um verschiedene Quellen zu nutzen, nicht nur die im Internet bereitgestellten, ist es unerlässlich, weiterhin Bibliotheken zu besuchen, ein Buch aufzuschlagen und über etwas nachzudenken, das nicht mit dem Strom der generativen KI über einen kommt. Zudem ist es sehr wichtig, Geisteswissenschaften in die Bildung einzubeziehen. Wir sind Zeugen eines Phänomens, das nicht erwünscht ist: dass die Geisteswissenschaften aus dem Lehrplan verschwinden. Es sind doch die Geisteswissenschaften, die Fähigkeiten zum kritischen Denken vermitteln. Sie bieten einen Blick auf die menschliche Geschichte und Literatur, welche die Grundlage für viele verschiedene intellektuelle Fähigkeiten bilden. Wir halten am Geisteswissenschaften-Lehrplan für alle Abschlüsse fest, trotz und wegen KI. Denn wir sind überzeugt, dass wir dadurch kosmopolitische Bürger ausbilden.

Personalmagazin: Wir erleben einen technischen Fortschritt, der unser Alltags- und Berufsleben radikal verändert. Wie kann Bildung uns Menschen helfen, die Technik weiterhin zu beherrschen?

Iñiguez: Bildung ist ein sozialer Prozess, der nicht nur darauf abzielt, Wissen zu vermitteln und sich die grundlegenden Werkzeuge anzueignen oder einen Beruf auszuüben. Der andere Hauptzweck der Bildung besteht darin, die Lernenden mit den notwendigen Fähigkeiten, Tugenden, Gewohnheiten und Weltanschauungen auszustatten, um gute Weltbürger und engagierte Akteure ihrer eigenen Gesellschaften zu werden. Deshalb dürfen wir uns nicht nur mit all den Wundern befassen, die die Künstliche Intelligenz hervorbringt, wie etwa dem unbegrenzten Zugang zu Informationen. Wir müssen den Studierenden auch die Fähigkeiten vermitteln, mit all diesen Ressourcen umgehen zu können. Darauf legen wir an der IE großen Wert. 

In meinem aktuellen Buch spreche ich über den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein. Er war überzeugt, dass Philosophie die Anwendung der Logik auf die Sprache ist und dass man mit einem perfekten System der Logik Antworten auf jede wichtige philosophische Frage geben kann. Das ist die Art und Weise, wie wir die generative KI betrachten. Aber Sprache ist immer kontextabhängig. Das merkt man sofort, wenn man versucht, mit Google Translate einen Witz von einer Sprache in eine andere zu übersetzen: Das Ergebnis ist meist überhaupt nicht lustig. Denn die KI versteht den Kontext des Witzes nicht. 

Und genau hier setzen die Geisteswissenschaften an. Eine Diskussion über ein bestimmtes Managementproblem wird beispielsweise nicht zum gewünschten Ergebnis führen, wenn wir uns ausschließlich auf KI verlassen. Denn dann würden wir völlig losgelöst vom Kontext sprechen. Und auch wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, führt kein Weg an menschlichen Entscheidungsträgern vorbei. Der Vorstand von Open AI hat die Entscheidung, sich von Sam Altmann zu trennen, sicher nicht Chat GPT überlassen – und auch nicht die Entscheidung, ihn wieder einzustellen.

Vermittlung von "Impact Skills" in der Managementausbildung

Personalmagazin: Welche Managementfähigkeiten brauchen wir in Zeiten von Polykrisen? In der Welt gibt es so viel Skepsis und Widerstand gegenüber der dringenden Umgestaltung von Unternehmen und Gesellschaften. Wie können wir diese Skepsis abmildern?

Iñiguez: Ich erinnere mich immer an eine Passage, die Peter Drucker, der Vordenker des Managements, in seinen Memoiren erzählt. Er nahm an einem Seminar von John Maynard Keynes an der Universität Cambridge teil. Und Peter Drucker bemerkt, dass sich seine Kommilitoninnen und Kommilitonen für das Verhalten von Rohstoffen interessierten – was heutzutage natürlich auch unter Wirtschaftswissenschaftlern sehr verbreitet ist. Doch während sich seine Mitstudenten und -studentinnen für das Verhalten von Waren interessierten, interessierte Drucker sich für das Verhalten der Menschen. Denn im Management geht es für ihn darum, andere Menschen zu führen, und nicht darum, eine Wissenschaft zu beherrschen oder ein Finanzingenieur zu werden. 

Personalmagazin: Empathie statt harter Zahlen und Fakten?

Iñiguez: Natürlich erwartet man von CEOs und Führungskräften, dass sie sich in ihrer Branche auskennen, mit Bilanzen, mit Finanzkonzepten und Marketinginstrumenten. Aber das Wichtigste für einen erfolgreichen Manager oder eine erfolgreiche Managerin ist es, Menschen zu verstehen, andere Menschen zu führen und sich um sie zu kümmern. Wenn Sie mich fragen, was für eine erfolgreiche Führungskraft am wichtigsten ist, dann ist es tatsächlich das Verständnis für andere. Aus diesem Grund sind Personal- und Talentmanagement zum wichtigsten Bereich für CEOs geworden. Und deshalb achten wir heute auf Empathie. Wir bemühen uns um das Wohlbefinden der Beschäftigten. 

"Wenn Sie mich fragen, was für eine erfolgreiche Führungskraft am wichtigsten ist, dann ist es tatsächlich das Verständnis für andere." – Santiago Iñiguez, Präsident der IE University

Die beste Art, andere zu führen, besteht darin, sie genau zu kennen und in gewissem Maße zu lieben. Letztendlich ist es wahrscheinlich das, was die bestmöglichen Führungskräfte ausmacht. Natürlich ist es auch sehr wichtig, dass sie in ihrem Beruf kompetent sind. Aber wirklich entscheidend ist, dass sie einen weiten Blick auf die Welt haben, Toleranz und Vielfalt zulassen – besonders in der heutigen Zeit, in der wir eine zunehmende Polarisierung in den meisten Gesellschaften beobachten, sowohl in Europa als auch weltweit.

Personalmagazin: Wie kann ich mir das vorstellen, wie lehren Sie Mitgefühl?

Iñiguez: In allen unseren Managementprogrammen bieten wir Kurse an, um "Impact Skills" zu erlernen. Diese Wirkungsfähigkeiten haben damit zu tun, wie man ein guter Manager oder eine gute Managerin wird. Und Mitgefühl kann man nicht nur intellektuell kultivieren, indem man liest, Fallstudien betrachtet oder Teamarbeit pflegt. An der IE bringen wir die Studierenden auch in Situationen, in denen sie diese Führungsqualitäten wirklich üben müssen und dann von ihren Kolleginnen und Kollegen bewertet und beurteilt werden. Das ist eine sehr gute Vorbereitung, um mitfühlend zu werden. 

Mitgefühl ist etwas, das man sein ganzes Berufsleben lang üben muss. Wir müssen die Tugenden im klassischen Sinne, die aus dem alten Griechenland und Rom zu uns gekommen sind, bewahren, denn sie sind uns nicht angeboren. Wir erwerben sie, indem wir sie praktizieren.

Der MBA als transformative Erfahrung

Personalmagazin: Das Bild, das Sie gerade gezeichnet haben, entspricht nicht dem typischen Klischee eines MBA-Programms. Würden Sie sagen, dass sich die MBA-Programme weltweit ändern müssen, um mit den Herausforderungen Schritt zu halten, denen wir gegenüberstehen?

Iñiguez: Wir müssen eine Reihe von Anforderungen in der Ausbildung wieder einführen und wir müssen den Studierenden Disziplin beibringen. Auch die Gewohnheit, hart zu arbeiten. Es geht um eine Kultur der Anstrengung. Und vor allem geht es um den Respekt vor anderen und natürlich um Ethik. Ich erwähne dies vor allem deshalb, weil wir uns während der Pandemie natürlich sehr schnell auf flexible Programme eingestellt haben. Junge Menschen mussten die grundlegenden und sehr anspruchsvollen Fähigkeiten neu erlernen, die mit der Teilnahme am Unterricht verbunden sind. Vor allem, was die Beherrschung ihrer Gewohnheiten im Umgang mit der Technik angeht. Viele sind zu abhängig von ihren elektronischen Geräten. Es geht ja wie gesagt nicht nur darum, Wissen zu vermitteln. Der MBA ist nicht nur ein Programm, das grundlegende oder aktualisierte Kenntnisse in Strategie und Marketing lehrt. Es geht um eine transformative Erfahrung. Und es ist eine ziemliche Herausforderung, das in ein oder zwei Jahren zu schaffen. Aber die Menschen sind sich dieser Schwierigkeit bewusst. Und sie machen Heureka-Erfahrungen, während sie an dem Programm teilnehmen. 

Tatsächlich wurden MBA-Programme traditionell dafür kritisiert, dass sie sich zu sehr darauf konzentrieren, die falschen Einstellungen, Arroganz und falschen Ehrgeiz zu vermitteln. Tatsächlich aber können sie den künftigen Managerinnen und Managern auch gute Tugenden einimpfen. Und das ist natürlich genau das, was wir an der IE zu tun versuchen.

Personalmagazin: Wie viel persönlicher Kontakt zwischen den Studierenden ist für diesen Ansatz notwendig? 

Iñiguez: Körperliche Anwesenheit ist notwendig, schließlich sind wir rationale Tiere und müssen unsere Sinne benutzen. Es geht nicht nur darum, am Bildschirm zu interagieren, sondern auch darum, sich körperlich zu treffen und alle verschiedenen Sinne zu trainieren.

Personalmagazin: Wie handhaben Sie das an der IE?

Iñiguez: Mit unseren Blended-Learning-Programmen schneiden wir laut Rankings hervorragend ab. Unsere Erfahrung ist, dass die Kombination der beiden Formate das Beste aus beiden Welten bietet. Ich unterrichte zum Beispiel nur in diesen Blended-Programmen, weil ich sehr viel unterwegs bin und meine Studierenden auch. 

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesen hybriden Programmen lernen sich viel besser kennen. Es gibt viel mehr Synergien in der Gruppe, weil zum Beispiel die eher introvertierten Studierenden häufiger an Chats und asynchronen Formen der Interaktion teilnehmen. Introvertierte Menschen sind in der Regel innovativer, kommen aber bei persönlichen Treffen selten zu Wort, weil die Extrovertierten die Diskussion dominieren. Wir bringen die Studierenden zumindest ein paar Mal während des Programms zusammen. Aber sie tauschen sich auch virtuell besser aus, als wenn sie nur an den persönlichen Sitzungen teilnehmen würden, wo die Interaktion eher oberflächlich ist. Diese gemischten Formate haben sich bewährt. Nichtsdestotrotz sind physische Begegnungen und soziale Interaktion von Angesicht zu Angesicht notwendig.


Über Santiago Iñiguez: Santiago Iñiguez ist Präsident der IE University und eine anerkannte Persönlichkeit in der globalen Hochschulbildung. Er ist regelmäßiger Redner auf internationalen Konferenzen und veröffentlicht Beiträge in verschiedenen Zeitschriften und Medien zum Thema Hochschulbildung und Führungskräfteentwicklung. Er gilt als führender spanischer Influencer im Bereich Management, etwa auf Linkedin. Iñiguez ist Professor für Strategisches Management. Er hat einen Abschluss in Jura, einen Doktortitel in Moralphilosophie und Rechtswissenschaft (Universität Complutense, Spanien) und einen MBA der IE Business School. Er war ein anerkannter Student an der Universität Oxford, UK.


Dieser Beitrag ist erschienen in "Personalmagazin MBA" - eine Beilage zu Personalmagazin 6/2024. Das gesamte Sonderheft können Sie hier kostenlos herunterladen.


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Schlagworte zum Thema:  MBA, Künstliche Intelligenz (KI), Studium