Seit seiner zweiten grundlegenden Arbeitskampfrechtsentscheidung vom 21.4.1971[1] stellt das BAG jeden Arbeitskampf mit der vierten und für die in der Praxis auftretenden Konflikte wichtigsten Kampfregel unter das ungeschriebene verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit. Arbeitskämpfe dürfen nur eingeleitet und durchgeführt werden, wenn sie zur Erreichung rechtmäßiger Kampfziele, die ja für eine fortdauernde Beschäftigung nach Ende des Arbeitskampfes angestrebt werden, geeignet, sachlich erforderlich und angemessen sind.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch für die Art und Weise, wie der Streik durchgeführt wird: Die Mittel des Streiks und die einzelnen Maßnahmen im Rahmen eines Streiks dürfen ihrer Art nach nicht über das hinausgehen, was zur Durchsetzung des erstrebten Zieles erforderlich ist. Der Arbeitskampf muss sich deshalb auch zumindest an Grundgebote der Fairness halten. Auch bei der Anwendung dieser Regel ist wie stets darauf Bedacht zu nehmen, dass den streikführenden Gewerkschaften als Autonomieträger bei der Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen Rechte ein Einschätzungsvorrang zusteht. Im Einzelnen:

6.4.1 Geeignetheit der Kampfmaßnahme

Das Gebot, wonach die ergriffenen Kampfmaßnahmen zur Zielerreichung geeignet sein müssen, hat bisher keine Rolle gespielt. So ist es etwa für die Geeignetheit eines ausgerufenen Arbeitskampfes bedeutungslos, ob die streikführende Gewerkschaft aufgrund ihres Organisationsgrads erwarten kann, so viele Arbeitnehmer aktivieren zu können, dass der ausgerufene Streik geeignet ist, zu angemessenen tariflichen Abschlüssen zu kommen. Auch Minderheitsgewerkschaften können, wenn sie die richtigen Forderungen stellen, auf breiter Front Solidarisierungen erreichen. Allenfalls im Zusammenhang mit ganz fernliegenden Solidaritätsstreiks könnte man die Frage nach deren Geeignetheit stellen.[1] Praktisch wird das kaum werden. Gewerkschaften werden Arbeitskampfmaßnahmen, die für sie mit Kosten verbunden sind, nicht ergreifen, wenn sie sie nicht für geeignet halten, auf den Kampfgegner Druck auszuüben.

[1] S.o. Abschn. 6.1.

6.4.2 Erforderlichkeit des Streiks

Streiks sind nur erforderlich, wenn die anderweitigen Verständigungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Der Streik muss "ultima ratio" sein. Eine Verständigung ohne den verstärkenden Druck eines Streiks muss ausgeschlossen erscheinen.

6.4.2.1 Besonderheiten beim Warnstreik?

Eine besondere Bedeutung hat diese Arbeitskampfregel im Zusammenhang mit der Diskussion um die sogenannten Warnstreiks. Bei diesen auf kurze Zeit befristeten Streiks geht es im Grundsatz vorrangig darum, der Gegenseite die Kampfbereitschaft einer möglichst großen Arbeitnehmergruppe für einen etwa erforderlich werdenden, länger andauernden Vollstreik zu signalisieren. Hierzu hat das BAG nach anfänglich anderer Beurteilung entschieden, dass Warnstreiks rechtlich ebenso zu behandeln sind wie Erzwingungsstreiks. Das ist schon deshalb richtig, weil kurze, als solche bezeichnete Warnstreiks nicht selten kurzfristig hintereinander geschaltet werden. So wird eine ganz ähnliche Wirkung, nicht selten, wegen der größeren Schwierigkeit, rechtzeitig Abwehrmaßnahmen zu organisieren, sogar eine größere Wirkung als bei einem Vollstreik erreicht.

Wegen der Gleichbeurteilung von Voll- und Warnstreik gelten auch für den Warnstreik die Friedenspflicht und das ultima-ratio-Prinzip. Zu ihm darf erst nach dem Ende des Tarifvertrags aufgerufen werden, dessen Gegenstände nun anders geregelt werden sollen. Zudem müssen grundsätzlich auch die Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein. Allerdings wird letzteres nach der Rechtsprechung förmlich, verfahrensmäßig, bestimmt: Das ultima-ratio-Prinzip ist nicht verletzt, wenn nach autonomer, von den Gerichten für Arbeitssachen gerichtlich nicht nachprüfbarer Beurteilung der in Tarifverhandlungen eingebundenen Gewerkschaft Verhandlungen allein, ohne begleitenden Arbeitskampf, keine Aussicht auf Erfolg mehr versprechen. Es bedarf keiner förmlichen Erklärung des Scheiterns. Die Gewerkschaft, die zu Arbeitskampfmaßnahmen greift, und sei es auch "nur" zu einem Warnstreik, aufruft, bringt damit ihre Einschätzung der Situation zum Ausdruck. Sie hält offenbar eine ausschließlich friedlichen Tarifauseinandersetzung für nicht mehr erfolgversprechend. Sie sieht keine Möglichkeit, ohne die Anwendung von Arbeitskampfmitteln zu einem für sie akzeptablen Tarifvertrag zu kommen.[1] Für diese Einschätzung gebührt ihr von Verfassungs wegen der Vorrang vor gerichtlicher Beurteilung.

Damit ergibt sich für die streikführende Gewerkschaft aus dem Gebot der Erforderlichkeit letztlich nur noch die auch gerichtlich nachprüfbare Pflicht,

  • vor Einleitung von Kampfmaßnahmen konkrete, das heißt auch: konkret beantwortbare, zustimmungsfähige Forderungen für den Inhalt des abzuschließenden Tarifvertrags zu erheben,
  • nach deren Ablehnung Verhandlungen zu beginnen
  • und ein etwa vereinbartes, von Kämpfen frei zu haltendes Verfahren einzuhalten, das z. B. in Form einer Schlichtungsvereinbarung von den Tarifpartnern allgemein oder für den ko...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge