Sozialer Wohnungsbau in Frankreich

Die großen Städte und Ballungsräume ziehen Menschen an, schaffen Wohlstand und Wachstum. Sie erzeugen aber auch soziale, wirtschaftliche und räumliche Ausgrenzung. Im zweiten Kapitel unseres Top-Themas zum Sozialen Wohnungsbau in Europa blicken wir nach Frankreich.

Europa und mitten darin Frankreich sind nicht immun gegen die Dynamik, welche die beschleunigte Urbanisierung rund um attraktive Zentren und deren Auswirkungen, wie Landflucht und räumliche Zersiedelung, mit sich bringen. In einem Land, in dem die Preise auf dem Immobilienmarkt stärker steigen als die Löhne und Gehälter, stellt sich daher die Frage nach dem Zugang zu Wohnraum und insbesondere zu erschwinglichem Wohnraum für alle, die das Leben in der Stadt mitgestalten.

Sozialer Wohnungsbau: Das französische Modell

Mit einer mehr als 100-jährigen Geschichte hat sich das französische Modell des sozialen Wohnungsbaus als Schlüsselfaktor für die soziale Mischung und die Raumplanung erwiesen.

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Gemeinsam sind sie ein wichtiger Wirtschaftsakteur, der jedes Jahr mehr als 17 Milliarden  Euro in den Neu- und Umbau seines Bestands investiert.

In den 124 Jahren seines Bestehens haben sich fünf Grundpfeiler des sogenannten französischen Modells des sozialen Wohnungsbaus entwickelt:

  1. Lokale Akteure
    Der französische soziale Wohnungsbau basiert auf einem diversifizierten Netz von 694 sozialen Wohnungsunternehmen, davon 253 öffentliche, 220 private, 165 Genossenschaften sowie 56 der sogenannten Accession sociale à la propriété (Gesellschaft zur sozialen Förderung des Erwerbs von Wohneigentum). Alle sind gemeinnützig.
  2. Generalistischer Charakter
    In Frankreich wie in Deutschland ist der soziale Wohnungsbau nicht nur für die Bedürftigsten bestimmt. Er soll vielmehr ein generalistisches Instrument zur Förderung der sozialen Mischung sein und verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenbringen, von den prekärsten bis zur Mittelschicht.
  3. Finanzierung durch nationale Ersparnisse
    Der soziale Wohnungsbau wird durch die Ersparnisse der Bevölkerung finanziert. Alle Banken bieten zwei von den Franzosen sehr geschätzte Sparkonten an (das Livret A und das LDD), deren Erfassung zentral durch ein staatliches Finanzinstitut erfolgt: die Caisse des Dépôts et Consignations. Auf diese Weise werden über 350 Milliarden Euro zur Finanzierung großer nationaler und regionaler Infrastrukturen sowie des sozialen Wohnungsbaus verwendet, durch langfristige Darlehen, mit einer Laufzeit von 40 bis 50 Jahren, zu einem ermäßigten Zinssatz. Diese Darlehen garantieren 50 bis 60 Prozent der Finanzierung der Baukosten.
  4. Staatliche Kontrolle
    Die sozialen Wohnungsunternehmen erfüllen einen öffentlich-rechtlichen Auftrag und profitieren hierfür von staatlichen Zuschüssen, Steuerbefreiungen sowie einem reduzierten Mehrwertsteuersatz. Sie unterliegen der Kontrolle ihrer Tätigkeit und Verwaltung durch die öffentliche Hand.
  5. Territorialer Zusammenhalt
    Darüber hinaus ist der soziale Wohnungsbausektor ein wichtiger Akteur bei der Entwicklung städtischer wie ländlicher Räume und trägt damit zum nationalen Zusammenhalt bei. Seit Kurzem ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in Kommunen mit mehr als 1.500 bis 3.000 Einwohnern, je nach geografischer Zone, bis 2025 mindestens 25 % der Wohnungen Sozialwohnungen sein müssen.

Im Jahr 2017 erhielten die sozial orientierten Wohnungsunternehmen mehr als acht Milliarden Euro an staatlichen Mitteln, um die Mieter bei der Zahlung der Mieten zu unterstützen. Weitere knapp zehn Milliarden  Euro stammten aus verschiedenen Arten öffentlicher Zuschüsse zur Förderung ihrer Tätigkeiten. Dennoch lebten gleichzeitig mehr als drei Millionen Menschen auf der Straße oder unter ungünstigen Bedingungen. Mehr als zwei Millionen Bewerber warten aktuell noch immer auf eine Sozialwohnung, über 200.000 davon alleine in Paris.

Änderungen von Haushalt und Gesetzeslage

2018 wurden neue Haushaltsregeln verabschiedet und für 2019 bestätigt, die die Finanzierungsmodalitäten erheblich ändern werden. Außerdem hat das Parlament ein neues Wohnungsbaugesetz verabschiedet.

Diese neuen Bestimmungen zwingen private und öffentliche Akteure zu einem radikalen Umdenken in Bezug auf ihre Betriebsweisen und Finanzierungsquellen. Die ersten Richtungswechsel wurden bei der Haushaltsdebatte 2018 im Parlament vorgenommen:

  • Einführung einer sogenannten Réduction de Loyer de Solidarité (RLS) (solidarische Mietminderung) mit dem Ziel, eine Verringerung von Sozialleistungen um 45  Euro pro Monat für bedürftige Mieter durch eine Absenkung ihrer Monatsmiete um den gleichen Betrag auszugleichen. Für die betroffenen Mieter ist die Senkung dieser Sozialleistung somit neutral. Für den Staat bedeutet sie 800 Millionen Euro Einsparungen im Jahr 2018, 837 Millionen Euro Einsparungen 2019 und ab 2020 1,5 Milliarden Euro. Für die sozialen Wohnungsbaugesellschaften bedeutet dies einen Einnahmeverlust von vier Prozent im Jahr 2019 und von 7,5 Prozent im Jahr 2020. Diese Mietminderung betrifft jedoch nur den Sozialwohnungssektor; der Privatsektor ist hiervon ausgenommen.
  • Erhöhung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 5,5 Prozent auf zehn Prozent, was für die Wohnungsunternehmen einer jährlichen Mehrbelastung von 700 Millionen Euro entspricht.
  • Einfrieren der Mieten im Jahr 2018, mit einer möglichen Verlängerung. Der Verlust an Mieteinnahmen wird für das Jahr 2018 auf 150 Millionen Euro geschätzt und soll 2020 auf 180 Millionen Euro steigen.
  • Ein geschätzter Anstieg um 350 Millionen Euro der Beiträge, die soziale Wohnungsunternehmen zur Finanzierung von Baubeihilfen zahlen, um den Rückzug des Staates auszugleichen.
  • Und schließlich wird die Berechnung des Zinssatzes des Sparbuchs Livret A, der eine ausgewogene Mischung zwischen den Interessen der Sparer und denen der Kreditnehmer, das heißt der sozialen Wohnungsbaugesellschaften, ist, geändert, um ihn den kurzfristigen Zinssätzen des Bankensektors anzunähern.

Damit die Wohnungsunternehmen weiterhin investieren können, wurden im Gegenzug bestimmte Entschädigungen von der Regierung eingerichtet, welche auf rund eine Milliarde Euro geschätzt werden. Aber diese betreffen im Wesentlichen Verlängerungen von ausstehenden Schulden und neue subventionierte Kredite des staatlichen Finanzinstituts Caisse des Dépôts.

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Neues Wohnungsbaugesetz: Umstrukturierung und Verkauf von Sozialwohnungen

Das Ziel des neuen Wohnungsbaugesetzes ist klar: mehr, besser und billiger bauen. Der Wille, den Wohnungsbau zu flexibilisieren, indem man sich von bestimmten Vorgaben löst, die die Schaffung von Wohnraum behindern, ist von Vorteil. Sowohl die sozial orientierten Wohnungsunternehmen als auch die privaten Anbieter können dabei gewinnen.

Das Gesetz geht aber weit darüber hinaus, denn es verändert den sozialen Wohnungsbau in seinem operativen Geschäft erheblich, indem es bis 2021 eine Mindestgrenze von 12.000 Wohneinheiten pro Organisation vorschreibt. In Frankreich, dem Land der mehr als 400 Käsesorten und 36.000 Gemeinden, ist die Zersplitterung der territorialen Kompetenzen in der Tat noch tief verwurzelt.

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Zu diesem Zweck wurde eine neue Gesellschaftsform geschaffen, die sogenannte Société Anonyme de Coordination (SAC). Ihr Zweck ist es, Zusammenschlüsse, die Bündelung von Ressourcen und den Umlauf der Finanzströme zwischen den Wohnungsbaugesellschaften zu fördern.
Angesichts der angestrebten Zusammenlegung von Gemeinden erscheint es logisch, dass die Regierung dasselbe mit den in diesen Gebieten vertretenen Akteuren des sozialen Wohnungsbaus tut. Diese Angleichung der Organisationsformen wird dazu führen, dass in großen Ballungsräumen große soziale Akteure agieren.

Die Umstrukturierung geht außerdem mit dem starken Anreiz einher, den Verkauf von Sozialwohnungen an Mieter zu fördern.

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Außerdem wird erwartet, dass eine verkaufte Immobilie die Finanzierung von, je nach Region, zwei bis vier neuen ermöglicht. Ziel ist es, von derzeit 8.000 Verkäufen auf 40.000 verkaufte Wohneinheiten pro Jahr zu wachsen.

Derzeit kann nur ein Mieter einer Sozialwohnung eine Sozialwohnung kaufen. Das Gesetz erweitert den Kreis der möglichen Käufer, indem es den blöckeweisen Verkauf von über 15 Jahre alten sogenannten Zwischenwohnungen an jede privatrechtliche juristische Person gestattet, beispielsweise eine Aktiengesellschaft.

Die Verpflichtung zum Verkauf einer bestimmten Quote von Wohnungen pro Jahr wurde vorerst zwar nicht beibehalten, zwischen den einzelnen Akteuren und dem Staat soll es jedoch zur Absprache eines Verkaufs-„Ziels“ kommen.

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Schließlich ist anzumerken, dass das neue Gesetz die Verpflichtung der Städte, bis 2025 mindestens 25 Prozent Sozialwohnungen anzubieten, durch verschiedene Bestimmungen lockert und die Gründung von Tochtergesellschaften zur Schaffung von Zwischenwohnungen, deren Mieten zwischen denen von Sozial- und frei finanzierten Wohnungen liegen, zulässt.

Die ersten Auswirkungen

Es ist zu begrüßen, dass die durch diese Entwicklungen ausgelöste öffentliche Debatte dazu geführt hat, dass mehrere der Grundlagen des französischen Modells des sozialen Wohnungsbaus beibehalten wurden, insbesondere der generalistische Charakter, die Nachhaltigkeit der Finanzierung durch die Ersparnisse der Bevölkerung und die Aufrechterhaltung der Kontrolle der öffentlichen Hand über seine Tätigkeit. Die neuen Haushalts- und Rechtsvorschriften ändern jedoch das Gefüge der Akteure und die Bedingungen für ihre Finanzierung erheblich. Zudem erscheinen erste wirtschaftliche Prognosen beunruhigend.

Bei den privaten sozialen Wohnungsbaugesellschaften dürfte die in Gang gesetzte Dynamik dazu führen, dass sich ein Gefüge von 220 in ihrem Gebiet verwurzelten sozialen Unternehmen zu einer Struktur aus wenigen großen nationalen Akteuren wandelt, die vermutlich nach finanziellen Kriterien handeln werden. Die öffentlichen sozialen Wohnungsbaugesellschaften werden sich dieser Entwicklung nicht entziehen können. Es stellt sich nunmehr die Frage nach der Übertragung der Kompetenzen in der Wohnungsbaupolitik und der Erteilung der Baugenehmigungen auf die Ebene der städtischen Ballungszentren oder Metropolregionen anstelle der einzelnen Städte. Ein zersplittertes Gefüge wird somit einer um wenige große Gruppen konzentrierten Struktur weichen.

Darüber hinaus erfordern der Verzicht auf staatliche Zuschüsse und die Verringerung der Mieteinnahmen infolge der Réduction de Loyer de Solidarité unter dem Vorwand des Schuldenabbaus ein ebenso notwendiges wie nützliches Ziel, dass die sozialen Wohnungsbaugesellschaften ihre Finanzierungsquellen diversifizieren. Es liegt nun an ihnen, sich finanzielle Unabhängigkeit aufzubauen.

Schließlich sind die ersten Prognosen der Caisse des Dépôts, der öffentlichen Finanzierungsinstitution für sozialen Wohnungsbau, in ihrer aktuellen jährlichen Studie über die langfristigen Perspektiven der sozialen Wohnungsbaugesellschaften eher alarmierend. Dort heißt es eindeutig, dass "sich das Ergebnis der Vermietungstätigkeit in den nächsten 20 Jahren durch den Mieteinnahmeverlust und die Fremdkapitalkosten stark verschlechtern würde". Außerdem würde die Schaffung von Wohnraum ab 2020 auf weniger als 100.000 Sozialwohnungen sinken, und zwischen 2027 und 2050 um die 63.000 Wohneinheiten betragen. Das ist weit entfernt von den derzeit gebauten durchschnittlich 130.000 Wohneinheiten pro Jahr und dem von der Regierung angestrebten Ziel von 150.000 neuen Wohneinheiten.

Fazit

Unternehmerisches Denken, finanzielle Autonomie – in der Verwaltung zeichnet sich eine regelrechte kulturelle Revolution ab. Neben der Schaffung von Wohnraum ist dies auch den neuen Herausforderungen geschuldet, denen sich die Akteure des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich stellen müssen. In Abhängigkeit von den gewählten Lösungen wird das französische Modell des sozialen Wohnungsbaus daraus entweder gestärkt und leistungsfähiger hervorgehen, insbesondere dank innovativer Partnerschaften, die es ihm ermöglichen, seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen, oder der soziale Wohnungsbau wird der strengen Finanzlogik des Immobilienmarktes und den territorialen Ambitionen zum Opfer fallen und bestenfalls nur mehr für die Bedürftigsten da sein.


Dieser Text ist in einer längeren Version im Fachmagazin "DW Die Wohnungswirtschaft", Ausgabe 01/2019 erschienen.