Der stationäre Handel braucht den Wandel

Der stationäre Handel steht auf dem Prüfstand. Größtes Sorgekind: die Innenstadt. Erfolgsversprechende Konzepte und Denkansätze sind zwar längst in der Mache. Die Zukunft der Branche bleibt dennoch ungewiss – nicht zuletzt auch wegen den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine.

Die Marktforscher von McKinsey und EuroCommerce fanden heraus, dass in der Pandemiezeit insgesamt 31 Prozent der Verbraucher ihre traditionellen Ladengeschäfte wechselten und 18 Prozent einen neuen Online-Shop ausprobierten. Der Handel änderte sich in seinem Kern rasant, fegte binnen Monaten Traditionsunternehmen aus ihren angestammten Märkten und damit auch aus den Gebäuden. Zum Beispiel werden inzwischen 40 bis 50 Prozent der Textilumsätze im E-Commerce erzielt. Tendenz? Stark steigend.

Im stationären Handel sieht es folglich düster aus. "Wir werden die Passantenfrequenzen von 2019 wahrscheinlich nicht wieder erzielen", vermutet Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). Der Einzelhandel muss sich neu erfinden. Mehr Service, mehr Convenience, mehr Individualität und mehr Nachhaltigkeit lautet Genths "Viersatz", um stationäre Konzepte zukunftsfähig zu machen.

Corona-Lockerungen verpuffen – Handel zeigt sich pessimistisch

Beim Blick auf konsumbezogene Zahlen kann einem angst und bange werden. War das Konsumklima 2020 und 2021 bereits deutlich eingetrübt, so erreicht es nun einen neuen Negativrekord. Für September prognostiziert die GfK einen Wert von -36,5 Punkten, nachdem er im August zum dritten Mal in Folge auf -30,9 Punkte gesunken war. Damit stürzt das Konsumklima auf einen neuen, historischen Tiefstand.

"Der Ukraine-Krieg sowie die hohe Inflation haben der Verbraucherstimmung einen schweren Schlag versetzt. Damit haben sich die Hoffnungen auf eine Erholung als Folge der Lockerungen pandemiebedingter Beschränkungen endgültig zerschlagen", erklärt GfK-Konsumexperte Rolf Bürkl den erneuten Rückgang. Die Anschaffungsneigung ist nun zum sechsten Mal in Folge um 1,2 Punkte auf -10,6 Punkte rückläufig gewesen. Das ist der niedrigste Wert seit mehr als 13 Jahren: In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurde mit -20,1 Zählern ein noch schlechterer Wert gemessen.

Hoffnung für Top-Innenstadtlagen – Mittelzentren in akuter Gefahr

Während der E-Commerce und der Lebensmittelhandel zumindest in den Pandemiejahren florierten, ist der Einzelhandel in den Innenstädten schwer angeschlagen. Im Vergleich zum Vor-Covid-Zeitraum lagen die Umsätze um bis zu 36 Prozent niedriger (Stand: Juni 2022). Trotz staatlicher Stützprogramme gehen Experten von weiteren Insolvenzen, Filialschließungen und Entlassungen aus. Dr.Johannes Berentzen, Geschäftsführer der BBE Handelsberatung, gibt sich auch bei den Flächen skeptisch: "Bis zum Jahr 2030 werden in Deutschland 15 bis 20 Millionen Quadratmeter der aktuellen Verkaufsfläche wegfallen." Für die Top-Innenstadtlagen sieht er noch gute Chancen, auch wenn die 1-A-Lagen flächenmäßig kleiner würden. Doch vor allem die Mittelzentren werden ihre Handelsläden, lautet Berentzens Analyse, zunehmend verlieren.

Wandel in Städten gab es immer, eines aber blieb über die Jahrhunderte gleich: Sie brauchen ein Zentrum mit belebenden Frequenzbringern, Gasthäusern und Geschäften, für die es sich zu kommen lohnt. Wenn die 15-Minuten-Stadt als neues Leitbild für mehr Lebensqualität und nachhaltige Stadtentwicklung Anwendung finden soll, dann müssen auch auf Quartiersebene die nötigen Bausteine in der Planung berücksichtigt und umgesetzt werden. Das beinhaltet auch verkehrsartenübergreifende Mobilitätskonzepte und einen lokal angepassten, vielfältigen Nutzungsmix.

Innenstädte: Raum für neue Nutzungsarten schaffen

Damit befassen sich nun Architekten, Soziologen, Verkehrs- und Stadtplaner, die es gewohnt sind, in Dekaden zu denken. Statt der ewig gleichen Filialisten sollten nun die bislang in Innenstädten kaum mehr vertretenen Nutzungsarten, wie Künstler-Ateliers, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Kulturstätten, Handwerksbetriebe und Kleingewerbe vertreten sein. Auch Wohnen und Kommunikationsorte sollen wieder Einzug halten, denn der öffentliche Raum ist für alle da.

Neu ist das alles nicht. Der Begriff Mixed Use kommt ursprünglich aus den USA. Die New Urbanists forderten dort schon vor 25 Jahren, dass die gemischt genutzte Stadt nach europäischhistorischem Vorbild wieder das Ziel sein müsse. Für Carolin Wandzik, Leiterin Geschäftsfeldentwicklung bei der GOS Gesellschaft für Ortsentwicklung und Stadterneuerung, müssen deshalb diese dritten Orte stärker in den Fokus rücken.

Rettungsprojekte für Innenstädte gibt es schon – die nötigen Daten (noch) nicht

Ein Problem dabei aber werde unterschätzt, so Dr.Eva Stüber, Mitglied der Geschäftsleitung IFH KÖLN: die Datenlage zu Gewerbeimmobilien in den Innenstädten. Sie lägen den meisten Kommunen – wenn überhaupt – häufig nur in Form von Exceltabellen vor. Basis hierfür seien meist unregelmäßige Erhebungen, die aber häufig kein vollständiges Bild abbildeten. Für die Steuerung der Innenstadt ist dies eine herausfordernde Lage. Ist der Status quo unklar, gestaltet sich die Zusammenarbeit mit anderen Planungsstellen in der Stadtverwaltung sowie den weiteren Stakeholdern der Innenstadt schwierig. Daher ist eine digitale, systematische und vollständige Erfassung der Innenstadtimmobilien und deren Besatz notwendig, um zielgerichtet agieren zu können. Das Modellprojekt "Stadtlabore Deutschland" soll hier Aufschluss geben. Auf der Webseite des Projekts der IFH in Kooperation mit 14 Städten ist die Rede von einer "digitalen Blaupause für vorausschauendes Leerstands- und Ansiedlungsmanagement", die in Arbeit sei. Das wäre schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. 


Der Beitrag erschien im Fachmagazin "Immobilienwirtschaft", Ausgabe 06/2022. Die Marktzahlen wurden aktualisiert.


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