Leitsatz (amtlich)

1. Zur Glaubhaftmachung der Unzumutbarkeit des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung nach § 4 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 23. Februar 2022 bedarf es nicht der Vorlage eines qualifizierten ärztlichen Attests.

2. Die Glaubhaftmachung durch ein ärztliches Attest oder eine vergleichbare amtliche Bescheinigung hat schon zur Gewährleistung eines effektiven Gesundheitsschutzes bereits zum Zeitpunkt der behördlichen Kontrolle an Ort und Stelle des Vorfalls zu erfolgen und nicht erst in einer späteren Hauptverhandlung in dem nachgelagerten Bußgeldverfahren.

3. Die Anforderungen an die Bestimmtheit eines Ordnungswidrigkeitentatbestandes waren aufgrund des im Februar und März 2022 besonders hohen und stagnierenden Infektionsgeschehens mit einem Höchststand an Neuinfektionen während der gesamten COVID-19-Pandemie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Niedersächsischen Corona-Verordnung in der Fassung vom 23. Februar 2022 noch deutlich reduziert, sodass § 21 der Verordnung trotz seiner Ausgestaltung als Blankettvorschrift noch als materiell rechtmäßig anzusehen ist.

 

Verfahrensgang

AG Stadthagen (Entscheidung vom 30.06.2023; Aktenzeichen 11 OWi 330/22)

 

Tenor

1. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

2. Die Sache wird auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

3. Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

4. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Stadthagen zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Stadthagen hat den Betroffenen mit der angefochtenen Entscheidung vom 30.06.2023 wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen eine vollziehbare Anordnung nach dem Infektionsschutzgesetz (hier: Maskenpflicht bei öffentlichen Veranstaltungen) zu einer Geldbuße von 100,- € verurteilt.

Nach den Feststellungen des Urteils nahm der Betroffene am 28.02.2022 in B. an einer angemeldeten Versammlung zum Thema "Spaziergang für das Ende aller Corona-Maßnahmen, Freiheit und Selbstbestimmung" unter freiem Himmel teil, zu deren Beginn die Demonstrationsteilnehmer einschließlich des Betroffenen von den eingesetzten Polizeikräften auf die bestehende Maskenpflicht hingewiesen worden seien. Sodann habe der Betroffene während der gesamten Versammlung bewusst auf das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes verzichtet und mehrfach eine Trillerpfeife verwendet. Ein von dem Betroffenen in der Hauptverhandlung vorgelegtes ärztliches Attest vom 14.01.2022 mit dem Inhalt "Aus psychischen Gründen kann o.g. Person keinen MNB tragen" erfüllte aus Sicht des Amtsgerichts nicht die an ein ärztliches Attest zu stellenden Mindestanforderungen, sodass der Betroffene nicht nach § 4 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung von der Maskenpflicht befreit gewesen sei, weil eine als Ausnahme geltende Beeinträchtigung oder Vorerkrankung weder am Vorfallstag noch in der Hauptverhandlung glaubhaft gemacht worden sei. Das vorgelegte Dokument enthalte weder eine Diagnose, noch gebe es andere Hinweise auf die Art der Erkrankung und auf den Grund, warum diese dem Tragen einer Schutzmaske entgegenstehen soll.

Zum Tatzeitpunkt galt die Niedersächsische Verordnung über Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 und dessen Varianten (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 23. Februar 2022. Die Verordnung enthielt in in den §§ 4 Abs. 5, 7 b und 21 folgende Regelungen:

§ 4 - Mund-Nasen-Bedeckung - dort Abs. 5

(5) Personen, für die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Vorerkrankung, zum Beispiel einer schweren Herz- oder Lungenerkrankung, das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht zumutbar ist und die dies durch ein ärztliches Attest oder eine vergleichbare amtliche Bescheinigung glaubhaft machen können, und Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres sind von den Verpflichtungen nach den Absätzen 1, 2 und 4 ausgenommen.

§ 7 b - Versammlungen unter freiem Himmel

1Unbeschadet des § 5 Abs. 4 hat die Veranstalterin oder der Veranstalter einer Versammlung unter freiem Himmel nach Artikel 8 des Grundgesetzes durch geeignete Maßnahmen den Schutz vor Infektionen mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 sicherzustellen. 2Teilnehmende Personen haben eine Atemschutzmaske mindestens des Schutzniveaus FFP2, KN 95 oder eines gleichwertigen Schutzniveaus zu tragen; für Kinder zwischen dem vollendeten 6. Lebensjahr und dem vollendeten 14. Lebensjahr gilt § 4 Abs. 1 Satz 4 entsprechend, für Personen mit medizinischer Kontraindikation und Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres gilt § 4 Abs. 5 entsprechend. 3Die zuständige Versammlungsbehörde kann zum Schutz vor Infektionen mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 die Versammlung auf der Grundlage des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes beschränken und dabei auch von Satz 2 abweichende Regelungen treffen.

§ 21 - Ordnungswidrigkeiten

Verstöße gegen die §§ 4 bis 13 und die §§ 17 bis 20 stellen Ordnungswidrigkeiten nach 73 Abs. 1 a Nr. 24 IfSG dar...

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