Nachhaltigkeit unter CEO-Druck
Ich erlebe in diesen Wochen eine bemerkenswerte Ambivalenz. In vielen Konzernen arbeiten Nachhaltigkeitsabteilungen mit beeindruckender Präzision an neuen KPIs, verfeinern Dekarbonisierungspfade, gestalten Lieferkettenprogramme. Gleichzeitig fordern gerade 43 deutsche und französische Vorstände öffentlich weniger Regulierung, weniger Berichtspflichten, weniger „Overload durch ESG“.
Am liebsten würde ich bei den Fachkolleg:innen anrufen und fragen: Wie geht es euch damit, dass euer CEO Deregulierung fordert?
Mein Eindruck ist, dass sich dieser Widerspruch durch alle Ebenen zieht – und er lähmt. Doch genau in diesem Spannungsfeld zeigt sich, wie belastbar die Idee des regenerativen Wirtschaftens geworden ist. Denn dort, wo die politischen Signale schwanken, entsteht eine neue Haltung: Jetzt erst recht.
Ich sehe sie in Innovationszentren, in Produktionsstätten, in regionalen Märkten. Menschen, die Nachhaltigkeit nicht mehr als Auflage verstehen, sondern als Freiraum. Die erkannt haben, dass weniger Regulierung nicht weniger Verantwortung bedeutet, sondern mehr Gestaltungsfreiheit.
Nachhaltigkeit: Von Compliance zu Kultur
Regenerative Business Cases entstehen nicht durch zusätzliche ESG-Kontrollen, sondern durch Überzeugung und gemeinsame Erzählungen. Wenn Mitarbeitende spüren, dass Kreislaufwirtschaft, Biodiversität oder Lieferkettentransparenz nicht nur Ziele auf einem Dashboard sind, sondern Teil der eigenen Erfolgsgeschichte, verändert das Verhalten die Kultur.
Diese Narrative wachsen nicht von oben. Sie entstehen dort, wo Teams ihr eigenes „Warum“ formulieren. Wo Nachhaltigkeit kein Reporting-Thema mehr ist, sondern ein Reflex.
Ich denke etwa an Decathlon, wo gebrauchte Fahrräder angekauft, repariert und wiederverkauft werden – nicht, weil es gefordert wird, sondern weil Kundinnen und Kunden genau das erwarten. Oder an Interface, das mit recycelten Fischernetzen Teppiche produziert und so ganze Lieferketten regenerativ umgestaltet hat. Beide zeigen, dass sich Verantwortung und Profit nicht ausschließen, sondern gegenseitig stärken.
Das Paradox der Deregulierung
Deregulierung mag kurzfristig befreiend wirken – für CFOs, Rechtsabteilungen, operative Einheiten. Doch sie entzieht jenen den Boden, die Nachhaltigkeit institutionell absichern wollen.
Viele Nachhaltigkeitsverantwortliche reagieren darauf mit Zurückhaltung. Weniger Ambition, mehr Defensive. Doch genau jetzt braucht es das Gegenteil. Jetzt ist die Zeit, proaktiv neue Legitimation zu schaffen – jenseits regulatorischer Pflichten.
In Hamburg etwa fordert die Bevölkerung mehr Nachhaltigkeit und stimmt für ihre gesetzliche Verankerung. Während auf Bundesebene Deregulierung diskutiert wird, wächst lokal der Wunsch nach Orientierung und Klarheit.
Wer Nachhaltigkeit als ökonomische Logik, als Innovationsmotor und als kollektives Mindset verankert, wird nicht geschwächt, sondern gestärkt. Sabine Braun, langjährige Nachhaltigkeitsberaterin, brachte es auf dem Sustainability Consulting Summit auf den Punkt: „Wer sich auf Regulierung verlässt, ist verloren.“
Narrative als Hebel
Was Unternehmen jetzt brauchen, sind Geschichten, die verbinden:
- Nicht „Wir müssen berichten“, sondern „Wir wollen gestalten“.
- Nicht „ESG kostet“, sondern „Regenerative Geschäftsmodelle zahlen sich aus“.
- Nicht „Wir erfüllen Pflichten“, sondern „Wir entfalten Potenziale und gewinnen Kunden“.
Diese Sprache verändert Organisationen. Sie gibt Richtung, auch wenn der regulatorische Rückenwind ausbleibt.
Der neue Corporate Reflex
Die wahren Nachhaltigkeitschampions sitzen längst nicht mehr nur im Headquarter. Sie arbeiten in Beschaffung, Vertrieb, Produktion – überall dort, wo der Satz „Wir haben keine Vorgaben mehr“ nicht als Entschuldigung dient, sondern als Startschuss.
Vielleicht ist genau das unsere Chance: die „Geheimagent:innen“ in diesen Abteilungen zu finden und zu aktivieren. Ich weiß, dass viele Nachhaltigkeitskolleg:innen genau das bereits tun – und sie tun es sehr gut. Gerade das macht mir Mut. Denn während in den Medien noch über Deregulierung debattiert wird, sind viele Unternehmen längst weiter, weil wir Nachhaltigkeitsverantwortlichen resilienter sind, als viele glauben.
Wir sehen Chancen, wo andere Deregulierung rufen. Wir wissen: Jetzt erst recht.
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