Vor drei Problemen stand Dr. Christian Geßner am Ende seiner Promotion: Er wollte sein Wissen endlich in die Praxis bringen. Er suchte für seine Arbeit eine Finanzierungsbasis, die unabhängig von Fördergeldern war – also ein Angebot, für das Unternehmen Geld zahlen wollten. Und schließlich suchte er einen Weg, sein Herzensthema Nachhaltigkeit greifbar und messbar zu machen.
„Nachhaltigkeit war damals für viele nur ein vager Modebegriff, aber kaum jemand wusste, wie man es konkret umsetzt“, erinnert er sich. Diesen „Pudding Nachhaltigkeit“ wollte er an die Wand nageln.
Nachhaltigkeit messbar machen
Die Lösung war das ZNU - Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Axel Kölle gründete er es 2008/2009 an der Universität Witten/Herdecke. Sie entwickelten einen Standard zum nachhaltigen Wirtschaften. Er sollte die Nachhaltigkeitsleistungen eines Unternehmens messbar und nach außen sichtbar machen – und damit zugleich Wege zur Verbesserung aufzeigen.
Der erste Schritt war ein Selbstcheck, mit dem Firmen ihren Nachhaltigkeitsstatus einschätzen konnten. Daraus entwickelten sie gemeinsam mit dem TÜV Rheinland den ZNU-Standard Nachhaltiger Wirtschaften. 2013 verliehen sie die ersten Zertifikate - damals nur im Lebensmittelbereich. Heute sind fast 140 Unternehmen von TÜV, Dekra & Co nach dem ZNU-Standard zertifiziert, quer durch viele Branchen und sogar über Deutschlands Grenzen hinaus.
Beratungsgelder sparen und Innovation fördern
Neben dem Standard Nachhaltiger Wirtschaften bietet das ZNU zertifizierten Unternehmen die Möglichkeit, sich in einem Partnernetzwerk zusammenzuschließen. Ein Angebot, das heute über 60 Firmen wahrnehmen. Das Netzwerk bietet Weiterbildungen und vor allem Austauschmöglichkeiten an – gerade im Nachhaltigkeitsbereich eine große Unterstützung, da viele Lösungen noch nicht in den Lehrbüchern stehen: „Wenn ich so ein Netzwerk habe, komme ich durch den Austausch schneller zu konkreten Verbesserungen und ich kann teilweise Beratungsleistung sparen“, sagt Geßner.
Die Ergebnisse sind manchmal überraschend: So führte ein Abendgespräch bei einem Netzwerktreffen zur Nutzung der Abwärme von Thyssen-Krupp für die König Pilsener-Produktion – mit messbaren CO2-Einsparungen für die Ökobilanz des Bieres.
Die Bio-Molkerei Söbbeke und die Teutoburger Ölmühle waren die ersten, die das Zertifikat erhielten. Doch heute nutzen längst nicht nur Bio-Produzenten und Vorkämpfer grünen Wirtschaftens den Standard. Da finden sich Namen wie Ritter Sport, Bitburger oder Katjes. „Uns war es immer wichtig, auch den klassischen Mittelstand für das Thema zu gewinnen – denn es geht uns nicht um ideologische Diskussionen, sondern ganz nüchtern um Zahlen, Daten und Fakten, die zeigen, dass das Unternehmen in seinen wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen messbar besser wird, Jahr für Jahr.“
So ermöglicht der ZNU-Standard jedem Unternehmen, seinen individuellen unternehmerischen Weg zu finden „Es freut mich immer, wenn die Unternehmen vom Standard begeistert sind, weil er alle Aspekte integriert: Einkauf, Produktion, Vertrieb etc.“, sagt Geßner.
Die Brücke zwischen Forschung und Praxis
Bis heute steht das ZNU auch für die Verknüpfung von Wissenschaft und konkreter Unternehmenspraxis. Verantwortlich dafür ist das Team rund um Forschungsleiterin Dr. Verena Timmer: „Ich verstehe mich als Übersetzerin, so dass die Unternehmen die neuesten Erkenntnisse aus der Wissenschaft umsetzen können.“ Als Beispiel nennt sie das Projekt BioVal (Biodiversity Valuing and Valuation). Gemeinsam mit FRoSTA, Seeberger und Ritter Sport suchte das ZNU in Kooperation mit der Uni Augsburg und der TU Berlin neue Wege, um die negativen Auswirkungen auf die Biodiversität durch Lebensmittel entlang ihres Lebenswegs zu reduzieren.
Die Unternehmen setzten Erkenntnisse zur Biodiversität um, ihr Feedback wiederum hatte Einfluss auf die Forschung. Und auch hier ging es wieder – ganz wissenschaftlich - um Messung. Denn nur so lassen sich die Auswirkungen des unternehmerischen Handelns auf die Artenvielfalt greifbar – und damit auch steuerbar – machen. „Dieses Projekt ist ein gutes Beispiel, wie wir zwischen Wissenschaft und Unternehmen eine Brücke schlagen, so dass die Kenntnisse aus der Forschung in die Umsetzung gelangen“, sagt Timmer.
Wissen haben wir genug – Lösungen noch nicht
Diese Verbindung zwischen Wissenschaft und Unternehmen ist Timmer wichtig. Denn: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel haben wir schon lange. Aber bei den Aktivitäten zu Eindämmung müssen wir deutlich zulegen.“
Ein anderes Thema, das derzeit sehr gefragt ist, betrifft die Rolle der Nachhaltigkeitsmanager:innen. „Hier haben die Firmen unseren Rat gesucht“, sagt Timmer. Das Team hat sich daraufhin in Unternehmen umgehört, wo es hakt und gleichzeitig in der Forschung recherchiert, wie Change-Prozesse am besten gestaltet werden. Beides haben sie zusammengeführt in ein Konzept, das die Rolle der Nachhaltigkeitsmanager:innen beschreibt und ihnen Werkzeuge an die Hand gibt – wissenschaftlich fundiert.
Diese Forschung ist auch in das Weiterbildungsangebot des ZNU eingeflossen: Mehr als 500 Nachhaltigkeitsmanager:innen wurden in den letzten Jahren am ZNU qualifiziert und geprüft. Daneben gibt es Schulungen zu Sustainable Leadership, Qualifizierungsangebote für Aufsichts- und Beiräte oder ein Seminar zur Nachhaltigkeitsberichterstattung.
Suchen, wo Wirkung möglich ist
Derzeit erlebt das ZNU bei Unternehmen viel Unsicherheit und Fragen – nicht zuletzt hervorgerufen durch die jüngsten Änderungen zur Nachhaltigkeit auf EU-Ebene. Häufig begegnet Geßner die Frage, wie viel Unternehmen denn noch tun sollen.
Ihm ist es dann wichtig, Wege aus der Frustration aufzuzeigen: „Ich werbe dafür, nüchtern zu prüfen, wo Wirkung möglich ist – und wieder in Bewegung zu kommen.“ Dabei setzt er auf eine Sprache, die Türen öffnet – auch in Unternehmen, wo man das gar nicht so sehr erwartet.