Angewandte Nachhaltigkeit
Die Mittelkonsole des Autos besteht aus geharzten Flachsfasern. Integrierte smarte Kontaktfasern erkennen erste Risse oder gar Brüche. Eine ideale nachhaltige Lösung aus nachwachsenden Rohstoffen und smarter Technologie, die vorzeitigen Materialaustausch vermeidet und Ressourcen schont.
Als Prototyp realisiert wurde sie mithilfe von CycloP, einer Software im Rahmen des Forschungsprojekts Cyclometric, die datenmodellbasiert einen lebenszyklusgerechten Designprozess unterstützt. Sie hilft, all die vielen Variablen zu berücksichtigen, die im Lebenszyklus Einfluss haben. Entwickelt haben diese Software das Fraunhofer IAO (Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation) und das IAT (Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement) der Universität Stuttgart – gemeinsam mit Partnerunternehmen.
Für Dr. Steffen Braun, stellvertretender Institutsleiter am IAO, ist das ein Paradebeispiel: „Für uns ist es einer der wichtigsten Hebel in der angewandten Forschung, Digitales und Nachhaltigkeit zusammenzudenken. Diese Twin Transformation ist für uns ein wichtiges strategisches Fundament.“
Anwendungsorientiert – mit direktem Nutzen für Unternehmen
Als Fraunhofer-Institut ist das IAO anwendungsorientiert und entwickelt viele seiner Projekte zusammen mit Unternehmen. Ein weiteres Beispiel: Elektromobilität. Das IAO verfügt über die größte, zusammenhängende Forschungsladeinfrastruktur in Deutschland – verteilt auf 36 Fraunhofer-Standorte in Deutschland. Hier arbeiten die Wissenschaftler:innen an Lösungen, wie Arbeiten, Pendeln und nachhaltige Mobilität kombiniert werden können.
Für uns ist es einer der wichtigsten Hebel in der angewandten Forschung, Digitales und Nachhaltigkeit zusammenzudenken. Diese Twin Transformation ist für uns ein wichtiges strategisches Fundament.
Dr. Steffen Braun, stellvertretender Institutsleiter, Fraunhofer IAO
Bald wird ein Parkhaus am Institutscampus Stuttgart zu einem Reallabor umgebaut, um im Alltag verschiedene Lösungen für Klima-Innovationen testen zu können. „Es gibt bei diesem Thema ganz viele kleine Bausteine, die wir schrittweise in praxisnahen Fragestellungen mit Unternehmen erforschen“, sagt Braun. So hilft die vom IAO ausgegründete Cloudplattform Ubstack den Unternehmen, ihre E-Fahrzeugflotten nachhaltiger zu planen und zu betreiben. Der Nutzen: Alle Prozesse des Fuhrparks werden transparent. Durch ein intelligentes Lade- und Lastmanagement wird der Energieverbrauch optimiert, Kosten gespart und Ladevorgänge effektiv geplant. Und auch Fuhrparks mit Elektroautos und Verbrennern lassen sich hier gemeinsam managen.
Auch im Bereich Extended Reality (XR) – also Virtual und Augmented Reality – ist das IAO Vorreiter. „Beispielsweise im klassischen Kontext der Infrastruktur- und Bauwirtschaft können wir damit Nachhaltigkeit und Energieeffizienz optimieren“, erklärt Braun. Spannend ist dieses Thema bei sehr hochwertigen Umgebungen, wie etwa komplexen Laboren und den Möglichkeiten virtueller Welten. „Mittel- bis langfristig stellt sich durchaus die Frage, welche physischen Umgebungen wir in Zukunft noch brauchen, um Forschung und Entwicklung zu betreiben“, sagt Braun. Das gilt auch für die Zusammenarbeit. Dank XR wird es möglich, selbst hochwertige Kooperationsprozesse komplett ins Virtuelle zu verlagern, beispielsweise in der Service-Entwicklung und Einbindung von Kunden-Feedback.
Die Zukunft ist schon da
Wer mit Braun spricht oder die verschiedenen Projekte des Instituts auf deren Webseite studiert, hat schnell das Gefühl, in der Zukunft unterwegs zu sein. Darauf angesprochen, zitiert Braun den Science-Fiction-Autor William Gibson: „Die Zukunft ist schon längst da – sie ist nur nicht gleichmäßig verteilt.“ Braun erklärt: „Wir arbeiten mit großen und kleinen Unternehmen zusammen, die ihrer Zeit voraus sind und am Markt nicht finden, was sie brauchen – den klassischen Innovatoren oder Early Adopters.“ Eine besonders große Herausforderung in seinen Augen ist es, die zukunftsweisenden Lösungen in die Fläche zu bekommen. „Die Replikation und Skalierung von Innovationen beschäftigt unsere Forschungsbereiche sehr stark“, sagt der Forscher. „Es motiviert uns, möglichst viele zur Twin Transformation zu bewegen.“
Wir können Nachhaltigkeit sehr viel spielerischer gestalten und damit Akzeptanz, Motivation und Unterstützung steigern.
Dr. Steffen Braun, stellvertretender Institutsleiter, Fraunhofer IAO
Einen Blick in die Zukunft gewährt Braun auch beim Thema Stadtgestaltung, seit vielen Jahren eines seiner Schwerpunktthemen. Er zählt zu den Initiatoren der „Fraunhofer-Initiative Morgenstadt“, einer vom IAO koordinierten Forschungsplattform mit vielen Partnern. Ziel ist es, Städte zukunftsfähig, nachhaltig und resilient zu gestalten. Derzeit steht die Zukunft der Stadtquartiere im Fokus. Neue Arten der Mischnutzung, modulare Quartiere, On-Demand-Mobilität spielen da eine Rolle. „Wenn wir Fahrzeugbesitz und -nutzung durch autonome Fahrzeuge anders managen, brauchen wir nur noch 10% Prozent der Fahrzeuge – mit großen Auswirkungen auf den Verkehrsraum in den Städten und als neue Potenziale für mehr Natur in der Stadt für die Klimaanpassung“, sagt Braun. Für ihn ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Nachhaltigkeit und Technologie sehr gut zusammenpassen.
Wie Unternehmen sich die Zukunft versperren
Was können Unternehmen falsch machen, wenn sie sich auf den Weg der Transformation machen? Aus Sicht von Braun sind es vor allem drei Stolpersteine:
- Fehlendes Mindset und zu starres Festhalten an kurzfristigen Effizienzzielen: Häufig bleiben Unternehmen stehen, wenn vorher definierte Ziele erreicht wurden und denken nicht weiter. „Wir lassen zu wenig Innovation zu“, sagt Braun. „Ich finde es wichtig, offen und kontinuierlich nach innovativen Lösungen zu suchen.“
- Fehlende Bemessungskriterien: Häufig würden bei Veränderungsprozessen nur monetäre und CO2-bezogene Kriterien berücksichtigt. Es gelte viele weitere Aspekte im Blick zu haben, die bei nachhaltigkeitsrelevanten Entscheidungen zu berücksichtigen sind – zum Beispiel Ökosystemdienstleistungen oder Mehrwert von Risikovermeidung.
- Fehlende Kommunikation: Wer mit seinem Unternehmen neue Wege geht, muss dies klar kommunizieren und über Motive, Visionen und Ziele sprechen. Nur so schafft er Akzeptanz und Begeisterung, so dass die Belegschaft die Veränderungen mitträgt.
Spielerisch die Akzeptanz steigern
Als besonderen Ansatz zur Akzeptanz neuer Wege sieht Braun Gamification. „Wir können Nachhaltigkeit sehr viel spielerischer gestalten und damit Akzeptanz, Motivation und Unterstützung steigern.“ Ein Beispiel sind Anreizsysteme im Bereich hybrider Büronutzung: Je effizienter jemand sein Büro nutzt, teilt oder für Andere freigibt, umso mehr Belohnungspunkte erhält er in einer Art monatlicher „Challenge“ – ähnliches gilt im Bereich nachhaltiger betrieblicher Mobilität.
Eine Art der Zusammenarbeit, die sich am IAO bewährt hat, sind große Innovationsnetzwerke. „Wie ein virtueller Think Tank arbeiten hier rund 20 Unternehmen unter wissenschaftlicher Leitung zu einem Schwerpunktthema zusammen“, erklärt Braun. Gemeinsam entwickeln sie Zukunftsszenarien, tragen die Ideen in die Praxis und lernen voneinander. Forschung ist für Braun eine Art Brückenbauer. „Es ist wichtig, dass wir uns schnell und früh gemeinsam aufstellen und uns öffnen. Wenn jedes Unternehmen nur für sich versucht, Neues zu erkunden, kommen wir für die großen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit nicht weiter.“
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