Rz. 7

§ 127 AO setzt weiter voraus, dass keine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können. Nur dann ist es gerechtfertigt die Verletzung von Verfahrens- und Formfehlern unbeachtet zu lassen und einen insoweit fehlerhaften Verwaltungsakt bestehen zu lassen. Das bedeutet, dass der Verwaltungsakt materiell richtig ist und keine andere ebenfalls materiell richtige Entscheidung hätte ergehen können.[1] Ist der Verwaltungsakt rechtswidrig, weil z. B. die Voraussetzungen der gesetzlichen Grundlage nicht vorlagen, hätte dagegen eine andere Entscheidung in der Sache nicht nur ergehen können, sondern sogar müssen.[2] Es muss ausgeschlossen sein, dass eine andere Entscheidung hätte ergehen können; im Zweifel ist der Fehler nicht unbeachtlich.[3]

Damit sind die gebundenen Verwaltungsakte (also z. B. die Steuerfestsetzung) erfasst (vgl. jedoch Rz. 10); da die Finanzverwaltung Steuern nur nach Recht und Gesetz erheben darf, steht ihr insofern kein Ermessensspielraum zu.[4] § 127 AO ist aber nicht anwendbar in den Fällen, in denen die Finanzbehörde ihr Ermessen ausüben kann[5]; dann kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass ohne den Verfahrens- oder Formfehler (z. B. Mitwirkung einer zu beteiligenden Stelle; örtliche Zuständigkeit) das Ermessen anders ausgeübt worden wäre.[6] Das gilt auch, wenn die Ermessensentscheidung durch die übergeordnete Behörde nachgeprüft wird, der sowohl die örtlich unzuständige Behörde, die entschieden hat, als auch die örtlich zuständige Behörde unterstehen.[7] Eine Ausnahme gilt nur in den Fällen der Ermessensreduzierung auf Null; verringert sich der Ermessensspielraum der Behörde im Einzelfall so stark, dass nur eine einzige Entscheidung richtig sein kann, ist § 127 AO anwendbar.

Auch bei Ermessensentscheidungen führt der Verfahrens- oder Formfehler dann nicht zur Aufhebung des Verwaltungsakts, wenn der Fehler unter keinem möglichen Gesichtspunkt für die Entscheidung der Behörde kausal gewesen sein, diese also nur in irgendeiner Weise beeinflusst haben kann.[8] Das ist etwa der Fall, wenn entgegen § 119 Abs. 3 AO dem Verwaltungsakt Namenswiedergabe oder Unterschrift fehlen. Diese Fehler sind dann vollständig sanktionslos.

 

Rz. 8

Kein Fall des Ermessens, sondern der Rechtsauslegung ist die Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und des zu ihrer Ausfüllung gewährten Beurteilungsspielraums.[9] Da insoweit im Einzelfall immer nur eine richtige Entscheidung ergehen kann, die von den Gerichten inhaltlich voll nachgeprüft werden kann, ist § 127 AO anwendbar mit der Folge, dass ein Verfahrens- oder Formfehler unbeachtlich sein kann.[10] Ebenfalls nur eine Entscheidung kann ergehen in Fällen der Vertragsauslegung; auch das ist Rechtsanwendung, bei der alle anderen Entscheidungen falsch sind.[11]

§ 127 AO ist auch anwendbar in Schätzungsfällen nach § 162 AO. Trotz der mit einer Schätzung notwendig verbundenen Unsicherheit[12] ist die Schätzung nicht Ermessensausübung, sondern strenge Rechtsanwendung; es muss ein dem Sachverhalt und dem Inhalt des vorgefundenen Materials angemessener Schätzungsmaßstab (Schätzungsmethode) gefunden werden, und dieser muss konsequent und den Rechtsgrundsätzen der Schätzung entsprechend angewendet werden; es handelt sich dabei um Rechtsanwendung in der Form einer Beweiswürdigung, die von den Gerichten inhaltlich voll nachprüfbar ist, sodass eine dem Recht entsprechende "andere Entscheidung in der Sache" nicht möglich ist.[13] Das FA hat bei der Ermittlung der Schätzungsgrundlagen einen Beurteilungsspielraum.

 

Rz. 9

Unrichtig ist die Ansicht, das FG sei durch § 127 AO nicht gebunden, es könne einen Verwaltungsakt eines örtlich unzuständigen FA auf jeden Fall aufheben.[14] Hier wird verkannt, dass das FG als Rechtsschutzinstanz nur auf einen zulässigen Antrag des Betroffenen hin einen Verwaltungsakt aufheben kann. Was der Stpfl. nicht verlangen kann (so die Formulierung des § 127 AO), kann das FG nicht zusprechen.[15]

 

Rz. 10

Eine "andere Entscheidung in der Sache" kann in besonderen Fällen auch bei Steuerbescheiden (gebundenen Verwaltungsakten) getroffen werden, sodass Verfahrens- oder Formfehler schaden. Das ist dann der Fall, wenn der Verwaltungsakt, wird er ohne den Verfahrens- oder Formfehler erlassen, materiell eine andere rechtliche Bedeutung gewinnt. Verfahrens- oder Formfehler sind nämlich nur dann unbeachtlich, wenn sie den materiellen Gehalt des Verwaltungsakts nicht berühren.

Wird etwa ein Messbescheid von dem örtlich unzuständigen FA erlassen, so bedeutet dies, auch wenn der Inhalt des Bescheids materiell richtig ist, dass der Steuerbescheid von der falschen Gemeinde erlassen wird; der Messbescheid enthält insoweit die bindende Entscheidung, welcher Gemeinde das Besteuerungsrecht zusteht. Damit gewinnt der Steuermessbescheid allein durch den Zuständigkeitsfehler eine andere materiell-rechtliche Dimension (Steuergläubigerschaft der Gemeinde, Hebesatz), sodass der Verfahrensfehler nicht unbeachtlich ist.[16] A. A. jedoch BFH v. 19.11.2003, I R 88/02,...

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