Rz. 12

Nach § 367 Abs. 2 S. 1 AO hat die Finanzbehörde aufgrund des anhängigen und zulässigen Einspruchsverfahrens die Sache, also den Regelungsinhalt des mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakts, "in vollem Umfang erneut zu prüfen". Dieser Grundsatz ergibt sich zwangsläufig aus der nach §§ 85, 88 AO bestehenden Verpflichtung der Finanzbehörde, die Steuer nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig und materiell richtig festzusetzen und dabei alle Umstände, auch die für den Stpfl. günstigen, zu berücksichtigen. Da das finanzbehördliche Einspruchsverfahren Teil des allgemeinen Verwaltungsverfahrens ist, gilt über § 365 Abs. 1 AO diese Regelung auch für das Einspruchsverfahren.

 

Rz. 13

Das finanzbehördliche Einspruchsverfahren bezweckt nicht nur den Rechtsschutz des Beteiligten, sondern dient auch der Selbstkontrolle der Finanzbehörde. Das Einspruchsverfahren ist nur ein Teil des allgemeinen, auf den Erlass des Verwaltungsakts gerichteten Verwaltungsverfahrens.[1]  Die Finanzbehörde darf sich deshalb nicht darauf beschränken, den Regelungsinhalt des angefochtenen Verwaltungsakts auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen, sondern hat über den in dem angefochtenen Verwaltungsakt geregelten Lebenssachverhalt eine erneute Entscheidung zu treffen.[2]  Durch die Einspruchseinlegung wird die Finanzbehörde in die gleiche Rechtssituation versetzt, als würde sie über die Sache erstmals entscheiden.[3]

 

Rz. 13a

Der Prüfungsumfang wird nicht durch das Einspruchsbegehren des Einspruchsführers, seine Anträge im Einspruchsverfahren[4] oder durch Regelungen für die Änderung von Verwaltungsakten, insbesondere durch § 176 AO[5], eingeschränkt.

 

Rz. 13b

Die der Finanzbehörde im Einspruchsverfahren eingeräumte Entscheidungsbefugnis besteht nur im Rahmen des durch den mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakt geregelten Lebenssachverhalts.[6]  Dieser Lebenssachverhalt darf im Einspruchsverfahren von der Finanzbehörde nicht durch einen anderen Sachverhalt ersetzt werden, z. B. den Übergang von der Steuerschuld zur Haftung oder einen anderen Erwerbsvorgang bei der GrESt.[7]  Der Nachprüfungsumfang wird begrenzt durch die Regelung im angefochtenen Verwaltungsakt[8] und darf nicht auf andere Personen, Steuergegenstände oder Zeiträume ausgedehnt werden.[9]

 

Rz. 13c

Die Finanzbehörde darf allerdings die rechtliche Begründung für die angefochtene Regelung ändern.[10]  Bei der ESt und KSt wird die Nachprüfungsbefugnis nicht auf einzelne unselbstständige Besteuerungsgrundlagen[11] beschränkt.[12]

 

Rz. 14

Die Finanzbehörde muss demgemäß auch eine erneute Ermessensausübung vornehmen.[13]  Sie darf sich nicht wie das FG nach § 102 FGO auf die Überprüfung der vorangegangenen Ermessensentscheidung beschränken. Hierbei ist die Finanzbehörde im Einspruchsverfahren auch nicht an ihre alte Bewertung der Ermessenskriterien gebunden.[14]  Sie kann bei dieser erforderlichen Neubewertung der Ermessenskriterien auch zu einer Verböserung der Entscheidung kommen.[15]

Maßgeblich für die neue Ermessensentscheidung ist der Sachverhalt, wie er im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung vorliegt.[16]  Nach Erlass des angefochtenen Verwaltungsakts und während des Einspruchsverfahrens eingetretene Sachverhaltsveränderungen sind bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.[17]

[2] Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 367 AO Rz. 12; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 367 AO Rz. 12.
[4] BFH v. 15.12.1992, VIII R 52/91, BFH/NV 1993, 684; BFH v. 4.11.2003, VIII R 38/01, BFH/NV 2004, 1372; Klein/Rätke, AO, 14. Aufl. 2018, § 367 Rz. 3; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 367 AO Rz. 16; Koenig/Cöster, AO, 3. Aufl. 2014, § 367 Rz. 9.
[10] BFH v. 8.11.1994, VII R 1/91, BFH/NV 1995, 657 für den Austausch des Haftungsgrunds; ebenso BFH v. 9.5.2006, VII R 50/05, BFH/NV 2006, 1898 = BStBl II 2007, 600.
[14] Klein/Rätke, AO, 14. Aufl. 2018, § 367 Rz. 3 Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 367 AO Rz. 172; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 367 AO Rz. 12; Hardt...

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