1 Einleitung

1.1 Allgemeines

 

Rz. 1

Diese Vorschrift stellt den Versuch dar, das Problem der widerstreitenden Steuerfestsetzungen gesetzgeberisch zu lösen. Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt vor, wenn aus einem Sachverhalt unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich nach der gesetzlichen Wertung gegenseitig ausschließen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass derselbe Vorgang von einem FA zur SchenkungSt, von einem anderen zur ESt herangezogen wird. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar, dass sowohl die SchenkungSt- als auch die ESt-Pflicht von den beteiligten Finanzbehörden verneint wird, obwohl feststeht, dass der Sachverhalt den Tatbestand einer der beiden in Betracht kommenden Steuerarten erfüllt. Ähnliche Fragen tauchen bei der Zuordnung eines Sachverhalts zu einem bestimmten Besteuerungszeitraum auf. Grund für diese Konflikte ist die Zuständigkeitsregelung für die FA, die den Sachverhalt nicht unter allen denkbaren steuerlichen Gesichtspunkten zu prüfen haben, sondern jeweils nur für einzelne Steuerarten zuständig sind. Solche widerstreitenden Steuerfestsetzungen führen nicht dazu, dass der Steuerbescheid, in dem der Sachverhalt widerstreitend und damit unrichtig erfasst worden ist, nichtig ist.[1] Vielmehr ist dieser Steuerbescheid wirksam, aber rechtswidrig. Eine Beseitigung des Widerstreits kann daher nur durch eine Änderung und damit Durchbrechung der Bestandskraft des unrichtigen Bescheids erfolgen.

 

Rz. 2

Übersicht über die gesetzliche Regelung

 
Abs. 1: positiv widerstreitende Steuerfestsetzungen zuungunsten des/der Stpfl.
Abs. 2: positiv widerstreitende Steuerfestsetzungen zugunsten des/der Stpfl.
Abs. 3: negativ widerstreitende Steuerfestsetzungen zuungunsten wie zugunsten des/der Stpfl.
Abs. 4: "Folgeänderung" gegenüber dem Stpfl.
Abs. 5: "Folgeänderung" gegenüber einem Dritten

Der der Vorschrift zugrunde liegende Gedanke besteht darin, dass eine Änderungsmöglichkeit für bestimmte fehlerhafte Steuerbescheide geschaffen werden soll. Nach § 174 AO kann nicht jeder Fehler korrigiert werden, sondern nur diejenigen Fehler, die zu widerstreitenden Steuerfestsetzungen i. S. d. Tatbestände des § 174 Abs. 1-5 AO geführt haben. § 174 AO gibt also nicht schlechthin der materiellen Richtigkeit der Steuerfestsetzung den Vorrang vor der Rechtssicherheit und dem hieraus fließenden Prinzip der Bestandskraft, sondern setzt nur im Rahmen genau umschriebener Tatbestände das Prinzip durch, dass jeder steuerbare Vorgang in einer Steuerfestsetzung besteuert werden soll. Daraus folgt, dass § 174 AO nur anwendbar ist, wenn mehrere Steuerfestsetzungen kollidieren (vgl. Rz. 46). Zu weitgehend daher Macher, DStR 1979, 548, nach dem es "Zweck des § 174 AO ist, der materiellen Gerechtigkeit gegenüber Formalismus und Fristenlauf zum Siege zu verhelfen". Die gesetzliche Regelung über die Änderung von Steuerfestsetzungen enthält ein abgewogenes Verhältnis der Prinzipien von materieller Richtigkeit und Rechtssicherheit, ohne dass eines dieser Prinzipien als das schlechthin dominierende angesehen werden kann. Es sollte nicht übersehen werden, dass "Formalismus und Fristenlauf" wesentliche Mittel zur Erreichung von Rechtssicherheit sind, damit prinzipiell gleichrangig neben dem Prinzip der materiellen Richtigkeit stehen und unverzichtbarer Bestandteil der Steuergerechtigkeit sind.

 

Rz. 3

Konkret liegt der Grund für die Regelung des § 174 AO darin, dass ein Fehler korrigiert werden soll, der entstanden ist, weil ein oder mehrere Steuerbescheide über ihren Regelungsbereich hinausgegangen sind und damit den Regelungsbereich einer anderen Steuerfestsetzung verletzt haben. Dieser Fehler in der Abgrenzung des Regelungsbereichs kann darin bestehen, dass ein Steuerbescheid Besteuerungsgrundlagen zulasten eines anderen Steuerbescheids in seinen Regelungsbereich hineinzieht, die nicht in diesen Regelungsbereich gehören[2], oder dass der Steuerbescheid seinen Regelungsbereich rechtswidrig zu eng zieht, also weniger Besteuerungsgrundlagen erfasst, als er nach der gesetzlichen Regelung erfassen müsste.[3] § 174 AO ermöglicht damit eine Korrektur, wenn Steuerbescheide ihre Regelungsbereiche abweichend von der gesetzlichen Regelung, und damit falsch, umgrenzen.

 

Rz. 4

§ 174 AO enthält nicht für alle vorkommenden Fälle Änderungsvorschriften. Die 5 Tatbestände der Vorschrift enthalten Regelungen für bestimmte Fallgestaltungen, enthalten aber keine umfassende Regelung. So fehlt etwa eine Änderungsvorschrift für den Fall, dass die Finanzverwaltung die Berücksichtigung von steuermindernden Tatsachen in einem Veranlagungszeitraum ablehnt, weil diese in späteren Veranlagungszeiträumen anzusetzen wären. Sind die Veranlagungen für diese späteren Veranlagungszeiträume bestandskräftig geworden, fehlt eine Änderungsvorschrift. Der Tatbestand des Abs. 3 liegt nicht vor. Abs. 4 würde nur eingreifen, wenn die Steuerfestsetzung zugunsten des Stpfl. geändert worden wäre; hier ist die ursprüngliche Steuerfestsetzung durch Nichtansatz der steuermindernden Tatsachen aber g...

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