Rz. 99

Eine Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO kann auch erforderlich sein, wenn die Aufrechterhaltung der Belastung des Stpfl. gegen Treu und Glauben verstieße. Hierher gehören in erster Linie die Fälle, in denen die Entstehung der Steuer bzw. das Nichtentstehen einer Steuervergünstigung ursächlich auf das Verhalten einer Behörde zurückzuführen ist und es daher gegen Treu und Glauben verstieße, wenn die durch die Behörde verursachte Belastung nicht beseitigt würde. Das ist etwa der Fall, wenn durch das langsame Arbeiten einer Behörde bestimmte Voraussetzungen für Steuervergünstigungen (z. B. Bescheinigungen) nicht rechtzeitig beigebracht werden können.[1]

 

Rz. 100

Treu und Glauben können im Rahmen einer gleichmäßigen Ermessensausübung eine Billigkeitsmaßnahme erforderlich machen, wenn die Behörde ihr Ermessen durch Richtlinien rechtmäßig gebunden hat ("Selbstbindung der Verwaltung"). Allerdings kann das Schutzbedürfnis des Stpfl. geringer sein als bei einem Vertrauen auf die Auskunft des für ihn zuständigen FA, wenn er auf eine allgemeine Verwaltungsanweisung einer oberen Behörde vertraut. Hier ist zu berücksichtigen, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift so anzuwenden ist, wie die Finanzverwaltung sie verstehen wollte. Ein abweichendes Verständnis des Stpfl. führt daher nicht zur Unbilligkeit der Steuerfestsetzung.[2] Keine Billigkeitsmaßnahme aus Treu und Glauben ist jedoch unter dem Gesichtspunkt der "Gleichbehandlung im Unrecht" gerechtfertigt, wenn eine Behörde in gleichgelagerten Fällen zu Unrecht Billigkeitsmaßnahmen ergriffen hat.[3]

 

Rz. 101

Ein Sachverhalt dieser Fallgruppe liegt auch vor, wenn die Behörde den Stpfl. unter Verstoß gegen §§ 88, 89 AO veranlasst, die Steuerfestsetzung bestandskräftig werden zu lassen, und dann die Billigkeitsmaßnahme mit der Begründung ablehnt, der Stpfl. hätte seine Einwendungen im Rechtsbehelfsverfahren verfolgen müssen.[4] Auch aus sonstigen Gründen kann es gegen Treu und Glauben verstoßen, die steuerliche Belastung nicht durch eine Billigkeitsmaßnahme zu beseitigen. So ist eine Billigkeitsmaßnahme möglich, wenn der Stpfl. die Steuerschuld durch ein entschuldbares Versehen entstehen lassen hat[5], weil die Finanzbehörde nachdrücklich eine unrichtige Rechtsansicht vertreten hat[6] oder sonst ein Verhalten des Stpfl. veranlasst hat, das zur Entstehung der Steuerschuld führte.[7] Gleiches kann gelten, wenn eine andere Behörde als eine Steuerbehörde durch eine objektiv falsche Auskunft, die in ihren Zuständigkeitsbereich fällt, den Stpfl. davon abgehalten hat, gesetzlich zulässige Maßnahmen zu treffen, um die Steuerbelastung zu vermindern oder auszuschließen.[8] Unbillig wäre die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme auch dann, wenn die Steuer auf den Auswirkungen von Infrastrukturmaßnahmen beruht, die der Stpfl. anstelle der Gemeinde erstellt hat.[9] Eine Billigkeitsmaßnahme kann auch gerechtfertigt sein, weil eine geplante Maßnahme, die zum Wegfall der Steuerschuld führen würde, infolge politischer Verhältnisse oder ähnlicher, außerhalb des Machtbereichs des Stpfl. liegender Umstände nicht durchgeführt werden kann.[10]

[4] Rz. 42; FG Hamburg v. 14.10.1977, IV 76/76 N, EFG 1978, 200; sehr weitgehend andererseits FG Berlin v. 18.3.1982, IV 15/82, EFG 1982, 595.
[5] Z. B. versehentliche Unterlassung der Wiedergestellung von Zollgut, BFH v. 3.2.1960, VII 69/59 U, BStBl III 1960, 184.
[6] FG Münster v. 19.3.1981, IV 2258/Z, EFG 1981, 537; FG des Landes Brandenburg v. 4.4.1995, 4 K 659/93 U, EFG 1995, 790; a. A. Hessisches FG v. 18.10.1999, 6 K 2063/97, EFG 2000, 50, nur wenn die Voraussetzungen einer verbindlichen Zusage vorliegen; m. E. unrichtig, da in diesem Fall überhaupt keine Billigkeitsmaßnahme in Betracht gezogen zu werden braucht; die Billigkeitsmaßnahme ist gerade dann angebracht, wenn keine dem Stpfl. günstige bindende Entscheidung der Finanzbehörde vorliegt.
[9] BVerwG v. 18.4.1975, VII C 15/73, BStBl II 1975, 679.
[10] Schleswig-Holsteinisches FG v. 24.2.1981, III 69/77, EFG 1981, 582 für das Rückgängigmachen eines Grundstückskaufs.

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