Rz. 45

Die Institute der abweichenden Steuerfestsetzung, § 163 AO, oder des Erlasses, § 227 AO, dienen nicht dazu, die Vorschriften über die Änderung von Steuerbescheiden zu umgehen. Rechtswidrige Steuerbescheide können, anders als andere Verwaltungsakte nach § 130 AO, nicht jederzeit geändert werden, sondern nur, wenn die besonderen Voraussetzungen der §§ 172ff. AO vorliegen. Die beschränkte Änderbarkeit von Steuerbescheiden beruht auf den ausdrücklichen Wertungen des Gesetzgebers, die nicht durch Billigkeitsmaßnahmen verändert werden können. Die Ablehnung von Billigkeitsmaßnahmen, wenn die Voraussetzungen einer Änderung des Steuerbescheids nicht vorliegen, ist daher nicht ermessensfehlerhaft.[1]

 

Rz. 45

Grundsätzlich muss der Stpfl. Nachteile in Kauf nehmen, die aus der Versäumung der Rechtsbehelfsfrist resultieren. Es beruht auf einer ausdrücklichen und bewussten Wertentscheidung des Gesetzgebers, dass Rechtsbehelfe nur innerhalb bestimmter Fristen eingelegt werden können. Eine Versäumung der Rechtsbehelfsfrist ist nur innerhalb der von § 110 AO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) gezogenen Grenzen nicht nachteilig. Wenn aufgrund dieser gesetzlichen Regelungen Nachteile wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist eintreten, ist dies eine gewollte gesetzliche Belastung, keine sachliche Unbilligkeit, die nach §§ 163, 227 AO beseitigt werden könnte.[2] Das gilt selbst dann, wenn der Stpfl. infolge der Verwaltungsauffassung seinen Rechtsbehelf für aussichtslos hielt.[3] Die Last, einen Musterprozess führen zu müssen, kann dem Stpfl. grundsätzlich nicht auf dem Weg über §§ 163, 227 AO abgenommen werden. Eine Billigkeitsmaßnahme ist also immer dann unzulässig, wenn der Stpfl. durch Einlegung eines Rechtsbehelfs die beanstandete Belastung hätte vermeiden können.[4] Abweichendes kann sich jedoch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben; vgl. Rz. 99ff. Entsprechendes gilt auch für andere Ausschlussfristen.[5]

 

Rz. 46

Entsprechend liegt auch in dem Ablauf der Festsetzungs- und Verjährungsfrist allein keine sachliche Unbilligkeit, da die bei Ablauf dieser Fristen eintretenden Rechtsnachteile vom Gesetzgeber gewollt sind.[6] Eine Billigkeitsmaßnahme kann daher nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn der Stpfl. ohne eigenes Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten, und sei es durch vorsorgliche Maßnahmen. Allerdings muss es sich angesichts der Bedeutung der Festsetzungs- bzw. Verjährungsfrist für den Rechtsfrieden um ganz besonders gelagerte Einzelfälle handeln. Bei der Entscheidung ist auch zu berücksichtigen, dass das Gesetz für die Fälle unverschuldeter Fristversäumung in den §§ 110, 171 Abs. 1, 230 AO bereits Vorsorge getroffen hat. Es muss sich also um Fälle handeln, die außerhalb des Regelungsrahmens dieser Vorschriften liegen. Erfasst werden daher nur Fälle, die der Gesetzgeber bei Formulierung der §§ 110, 171 Abs. 1, 230 AO nicht bedacht hat, bei denen der Stpfl. aber ähnlich schutzbedürftig ist wie in den genannten Fällen.[7]

 

Rz. 47

Sachliche Unbilligkeit kann bei Ablauf der Festsetzungs- bzw. Verjährungsfristen danach vorliegen, wenn wegen der besonderen Gestaltung der Verhältnisse der Stpfl. praktisch keine Möglichkeit hatte, die Frist einzuhalten. Die Festsetzungs- bzw. Verjährungsfrist soll einen Rahmen geben, in dem bestimmte Handlungen vorgenommen werden müssen. War das dem Stpfl. nicht möglich, ohne dass ein Tatbestand des § 171 Abs. 1 bzw. § 230 AO vorliegt, können die Folgen der Fristversäumung aus Billigkeitsgründen beseitigt werden. Ein Beispiel ist etwa § 10d Abs. 1 S. 4 EStG. Zur Ermöglichung des Verlustrücktrags läuft die Festsetzungsfrist des Rücktragsjahres nicht früher ab als die des Verlustjahres. Damit ist im Regelfall die Durchführung des Verlustrücktrags sichergestellt, da Bestandskraft und Festsetzungsfrist des Rücktragsjahres durchbrochen werden können. Erfolgt die Veranlagung des Verlustjahres jedoch erst kurz vor Ablauf der Festsetzungsfrist für dieses Jahr (etwa Ende Dezember), kann es vorkommen, dass der Stpfl. keinen Verlustrücktrag mehr beantragen kann, weil die Festsetzungsfrist für die Rücktragsjahre zusammen mit der Festsetzungsfrist für das Verlustjahr am 31.12. des Verlustjahres abläuft und damit auch die Festsetzungsverjährung für das Rücktragsjahr eingetreten ist, bevor der Antrag auf Verlustrücktrag gestellt werden kann. In einem solchen Fall ist der Verlustrücktrag im Billigkeitsweg zu gewähren.

 

Rz. 47a

Es ist auch nicht sachlich unbillig, wenn keine Billigkeitsmaßnahme ergriffen wird, weil die Sache rechtskräftig, aber sachlich unrichtig, von einem Gericht entschieden worden ist. Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO oder § 227 AO können nicht dazu dienen, die Folgen einer rechtskräftigen Entscheidung zu umgehen. Lehnt die Finanzbehörde in einem solchen Fall die abweichende Steuerfestsetzung oder den Erlass ab, handelt sie nicht ermessensfehlerhaft.[8] Das gilt selbst dann, wenn die Gerichtsentscheidung das Recht der EU verletzt. Das Unionsrecht fordert nicht...

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