Leitsatz

1. Dem in § 33 Abs. 4 EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011 und in § 64 Abs. 1 EStDV i.d. F. d. StVereinfG 2011 geregelten Verlangen, die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall formalisiert nachzuweisen, ist nach § 84 Abs. 3f EStDV i.d.F. d. StVere­infG 2011 auch im Veranlagungszeitraum 2006 Rechnung zu tragen.

2. Weder die in § 33 Abs. 4 EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011 normierte Verordnungsermächtigung noch der auf ihrer Grundlage ergangene § 64 Abs. 1 EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011 begegnet rechtsstaatlichen Bedenken.

3. Die in § 84 Abs. 3f EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011 angeordnete rückwirkende Geltung des § 64 EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011 ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie ist von der Ermächtigung des § 33 Abs. 4 EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011 gedeckt und deshalb im Hinblick auf Art. 80 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unbedenklich.

4. Eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) ist hierbei nicht zu beklagen. Denn dem Gesetzgeber ist es unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht verwehrt, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprach (Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010, 1 BvL 11/06 u.a., BVerfGE 126, 369).

 

Normenkette

§ 33 Abs. 1 EStG; § 33 Abs. 4 EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011; § 64 Abs. 1, § 84 Abs. 3f EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011; Art. 20, Art. 80 Abs. 1 GG

 

Sachverhalt

Eheleute K machten für 2006 diverse Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastungen geltend, u.a. Medikamente, Stärkungsmittel, Krankengymnastik, Massagen, Kur- und Fahrtkosten, Trinkgelder, Kurtaxe, Übernachtungskosten, Wassergymnastik. Das FA ließ diese Kosten überwiegend unberücksichtigt. Die Kurkosten berücksichtigte es nicht, weil die Kurbedürftigkeit nicht durch ein entsprechendes amtsärztliches Zeugnis nachgewiesen worden war. Die berücksichtigungsfähigen Kosten blieben unter der zumutbaren Belastung. Die Klage dagegen blieb erfolglos (Niedersächsisches FG, Urteil vom 20.8.2010, Haufe-Index 2648357, 15 K 514/08).

 

Entscheidung

Nachdem die Eheleute K die Notwendigkeit der Aufwendungen nicht in der rückwirkend nach § 64 Abs. 1 EStDV wieder gebotenen Form nachgewiesen hatten, schied ein Abzug nach § 33 Abs. 1 EStG aus. Der BFH bestätigte daher aus den unter den Praxis-Hinweisen näher erläuterten Erwägungen das FG.

 

Hinweis

Der Besprechungsfall behandelt die rückwirkende Anwendung der mit dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 neu eingeführten Nachweisregeln für als außergewöhnliche Belastungen geltend gemach­te Krankheitskosten (§ 64 Abs. 1 Nrn. 1–3 EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011).

1. Die bekannten Grundsätze zur einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung von Krankheitskosten gelten fort. Dazu gehört insbesondere, dass Kosten der eigentlichen Heilbehandlung, soweit medizinisch indiziert, ohne weitere Einzelprüfung der Zwangsläufigkeit berücksichtigt werden. Das regelt im Grunde nun § 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV. Denn Arznei‐, Heil‐ und Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 SGB V) gelten durch die Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers als notwendig nachgewiesen. Allerdings verlangt nun § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV für Maßnahmen, die nicht eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen und deren medizinische Indikation schwer zu beurteilen ist, ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, so z.B. bei Bade- und Heilkuren (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a EStDV).

2. Dies gilt rückwirkend in allen noch nicht bestandskräftigen Fällen (§ 84 Abs. 3f EStDV i.d.F. d. StVereinfG 2011). Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen hat der BFH im Ergebnis nicht. § 33 Abs. 4 EStG ist hinreichend bestimmt (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG), und der Verordnungsgeber blieb mit § 64 Abs. 1 EStDV im Rahmen seiner Befugnisse. Und die nicht uninteressante Frage, inwieweit eine gesetzliche Verordnungsermächtigung auch rückwirkende Verordnungen gestattet, beantwortete der BFH zum einen mit einem Beschluss des BVerfG (wenn Ermächtigung dazu aus Sinn und Zweck des Gesetzes folgt, BVerfG, Beschluss vom 8.6.1977,  2 BvR 499/74, BVerfGE 45, 142). Sinn und Zweck des Gesetzes war hier, die neue Rechtsprechung des BFH nicht zur Anwendung kommen zu lassen (s.u. 4.). Weiter hatte der Gesetz- und nicht der Verordnungsgeber die Rückwirkung normiert (Art. 2 Nr. 9 StVereinfG 2011).

3. § 84 Abs. 3f bestimmt zwar eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen), weil abgeschlossene Veranlagungszeiträume betroffen sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7.7.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1). Der BFH sah hier allerdings einen der vom BVerfG zugelassenen Ausnahmen als gegeben (BVerfG, Urteil vom 23.11.1999, 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239)...

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