Leitsatz

Die an Bedienstete das Kantons Thurgau gezahlte Familienzulage ist eine Familienleistung i.S.d. Art. 1 Buchst. u Ziff. i i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71. Sie mindert nach der gemeinschaftsrechtlichen Kollisionsregel des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 den Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld.

 

Normenkette

§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, Art. 1 Buchst. u Ziff. i, Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71, Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72

 

Sachverhalt

Der Kläger lebt in Deutschland, ist arbeitslos und bezieht Arbeitslosengeld II. Sein Sohn wohnt ebenfalls in Deutschland bei seiner Mutter, die seit Januar 2006 in der Schweiz beschäftigt und sozialversichert ist. Seit Januar 2006 erhielt sie dort Kinder- und Familienzulagen in wechselnder Höhe.

Nach Vorlage von Lohnabrechnungen der Mutter hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung zugunsten des Klägers auf, weil die in der Schweiz gezahlten Zulagen höher waren als das deutsche Kindergeld. Zu diesem Ergebnis gelangte sie, indem sie sowohl die Kinderzulage als auch die Familienzulage auf den Anspruch des Klägers auf Differenzkindergeld anrechnete.

Der Einspruch blieb erfolglos. Die Klage auf Kindergeld ab Januar 2006 in Höhe der Differenz zur Thurgauer Kinderzulage hatte insoweit Erfolg, als das FG Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.2008, 3 K 2540/07, Haufe-Index 2125578, EFG 2009, 853) die Familienkasse zur erneuten Bescheidung verpflichtete. Bei der Familienzulage handele es sich nicht um eine von dem Kanton Thurgau geschuldete "Fami­lienleistung" i.S.d. Art. 1 Buchst. u Ziff. i der VO (EWG) Nr. 1408/71, sondern um eine freiwillige kinderbezogene Arbeitgeberleistung. Der Kindergeldanspruch des Klägers ruhe somit nur in Höhe der Differenz zur Kinderzulage des Kantons Thurgau.

 

Entscheidung

Der BFH hob das Urteil auf und wies die Klage ab.

 

Hinweis

1. Wenn ein in Deutschland lebender, nicht erwerbstätiger Elternteil für sein ebenfalls in Deutschland lebendes Kind die Voraussetzungen der § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt und der andere Elternteil in Deutschland wohnt, aber in der Schweiz (oder einem EU-Mitgliedstaat) beschäftigt ist, so gehen – was das Urteil ausführlich darlegt – die im Beschäftigungsstaat geschuldeten Leistungen vor. Der deutsche Kindergeldanspruch ruht bis zur Höhe der im Ausland für das Kind geschuldeten Leistungen. An dieser Rechtslage hat sich durch das EuGH-Urteil vom 12.6.2012, C-611/10 und C-612/10 (ABl EU 2012, Nr C 227, DStRE 2012, 999) nichts geändert.

2. Zu den den Kindergeldanspruch mindernden ausländischen Leistungen zählt der BFH nicht nur die (an "jeden" gezahlte) Kinderzulage, sondern auch die Thurgauer Familienzulage, welche nach Kantonsrecht Teil der Besoldung öffentlich Bediensteter ist. Dies beruht auf ihrer Zweckbestimmung: Der Große Rat des Kantons Thurgau sieht die Familienzulage als Unterstützung für familiäre Lasten und damit als Zusatz zur Kinderzulage an. Da die Summe von Kinderzulage und Familienzulage höher war als das deutsche Kindergeld, verbleibt kein Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld.

Zum Verständnis: Aus der Sicht anderer Mitgliedstaaten müssten aufgrund ihres von der Legislative bestimmten Zwecks auch die an deutsche Beamte gezahlten kindbezogenen Besoldungsbestandteile zu den Familienleistungen gerechnet werden, nicht aber von privaten Arbeitgebern gewährte entsprechende Gehaltsbestandteile.

3. Der BFH hat dahinstehen lassen, ob der Anspruch des Klägers wegen § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG auch deshalb zu verneinen ist, weil das Kind in den Haushalt seiner vom Kläger getrennt lebenden Mutter aufgenommen war und diese nach der neueren Rechtsprechung des EuGH trotz ihres Anspruchs auf Familienleistungen nach dem Recht des Kantons Thurgau möglicherweise auch im Wohnland Deutschland (dem Grunde nach) anspruchsberechtigt war.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 26.7.2012 – III R 97/08

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