Leitsatz

Ein deutscher Staatsangehöriger, der mit seiner Familie den Lebensmittelpunkt in Tschechien teilt und dort sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, hat Anspruch auf deutsches (Differenz‐)Kindergeld, wenn er in Deutschland einen Zweitwohnsitz beibehält.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 8 AO

 

Sachverhalt

Der Kläger, deutscher Staatsangehöriger und Vater von zwei 1999 und 2007 geborenen Töchtern, bewohnt seit 1977 mit seiner Familie eine Einliegerwohnung im Hause seiner Eltern in K. (Rheinland-Pfalz). Diese verfügt über einen Wohnraum, ein Schlafzimmer, Duschbad, Kochnische und zwei Kinderzimmer. Nachdem er arbeitslos geworden war, trat der Kläger am 1.6.2006 eine Beschäftigung in Prag an. Seine Ehefrau wohnt dort mit beiden Kindern und die ältere Tochter besucht die deutsche Schule. Der Kläger verbringt seine freie Zeit mit der Familie in seiner Wohnung in K.

Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2006 nach § 70 Abs. 2 EStG auf.

Das FG Rheinland-Pfalz wies die Klage ab (Urteil vom 9.8.2012, 6 K 1462/11, Haufe-Index 3267626, EFG 2012, 2128). Es entschied, der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, weil er im Inland mit seiner Familie einen Zweitwohnsitz habe. Der Anspruch auf Kindergeld sei aber ausgeschlossen, da nach der VO Nr. 1408/71 das Recht des Beschäftigungsstaates Tschechiens gelte.

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil auf. Im zweiten Rechtsgang sind noch Feststellungen zu einem anzurechnenden tschechischen Kindergeldanspruch zu treffen.

 

Hinweis

1. Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG werden auch mit einem inländischen Zweitwohnsitz erfüllt, denn der Anspruch auf Kindergeld erfordert lediglich einen Wohnsitz im Inland, wofür auch einer von mehreren Wohnsitzen i.S.v. § 8 AO genügt. Der Anspruchsberechtigte muss sich weder überwiegend im Inland aufhalten (vgl. z.B. Art. 15 Abs. 2 Buchst. a OECD-MA) noch seinen Lebensmittelpunkt im Inland haben.

2. Nach dem EuGH-Urteil vom 12.6.2012, C‐611/10 und C‐612/10 (Hudzinski und Wawrzyniak), Haufe-Index 3593957 entfalten die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats. Deutschland muss deshalb Kindergeld auch an Personen zahlen, die einem anderen Sozialversicherungssystem angehören, sofern sie die Voraussetzungen der §§ 62ff. EStG erfüllen.

3. Wenn ein anderer Mitgliedstaat – hier Tschechien – sowohl als Beschäftigungsstaat wie auch wegen des gewöhnlichen Aufenthalts dort (Art. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71) als Wohnmitgliedstaat zuständig ist, wird die Anspruchskonkurrenz nicht nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 gelöst, sondern nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wäre auch dann einschlägig, wenn der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sein sollte.

4.Nach dem Gesetzeswortlaut schließt § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG den Kindergeldanspruch aus, wenn im Ausland ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung besteht. Die Vorschrift wäre aber gemeinschaftsrechtskonform dahin auszulegen, dass statt der vollständigen Versagung nur eine Kürzung des Kindergeldanspruchs in Betracht kommt, wenn ­anderenfalls das Freizügigkeitsrecht der Wanderarbeitnehmer beeinträchtigt wäre.

5.Das Urteil betrifft den eher seltenen Fall eines Deutschen, der mit seiner Familie zwecks Arbeitsaufnahme vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verzieht und währenddessen einen inländischen Wohnsitz beibehält. Für die Praxis interessanter ist die Frage, ob sich nicht Ausländer durch einen deutschen Zweitwohnsitz einen Kindergeldanspruch verschaffen können, z.B. indem mehrere kinderreiche Rumänen zusammen eine Plattenbauwohnung anmieten und diese gelegentlich aufsuchen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 18.12.2013 – III R 44/12

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