Leitsatz

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten – insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt – unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen, kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (EuGH, Urteil vom 22.10.2015, C–378/14, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501). Kann wegen der – nicht nur räumlichen – Trennung der Eltern nicht fingiert werden, dass diese in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Elternteil kindergeldberechtigt, der das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat.

2. In einem derartigen Fall steht der Kindergeldanspruch auch dann nicht dem in Deutschland lebenden Elternteil zu, wenn der im EU-Ausland lebende Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i, Buchst. z, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und e, Art. 67 VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 VO Nr. 987/2009

 

Sachverhalt

Der in Deutschland wohnende Kläger ist von seiner früheren Ehefrau, die mit dem gemeinsamen Sohn in Polen lebt, geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum (Januar 2011 bis Oktober 2012) zeitweise Arbeitslosengeld, Arbeitslohn und Leistungen nach dem SGB II. Die frühere Ehefrau war in Polen erwerbstätig und hatte dort keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht hat sie nicht gestellt.

Die Familienkasse lehnte den Antrag des Klägers auf Kindergeld ab, da die Kindsmutter vorrangig zum Bezug von deutschem Kindergeld berechtigt sei. Das FG Düsseldorf (Urteil vom 13.3.2013, 15 K 4316/12 Kg, Haufe-Index 3740428) gab der Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld ab Januar 2011 zu gewähren. Die Kindsmutter erfülle nicht die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62ff. EStG, und die Grund- und die Durchführungsverordnung begründe keine Rechte Dritter, durch die Rechte des Klägers geschmälert oder ausgeschlossen würden.

Der BFH setzte das Revisionsverfahren aus (Beschluss vom 8.5.2014, III R 17/13, BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329) und legte dem EuGH verschiedene Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung

Nachdem der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen entschieden hatte, hob der BFH das FG-Urteil auf und wies die Klage ab.

 

Hinweis

Der vorliegende Sachverhalt war Gegenstand des EuGH-Urteils vom 22.10.2015 C–378/14, Trapkowski, EU:C:2015:720 (BFH/NV 2015, 1789) und diente als Musterverfahren für zahlreiche ähnliche Fälle, in denen darüber gestritten wurde, ob einem im Inland wohnenden Kindergeldberechtigten das Kindergeld für dessen im Ausland beim anderen Elternteil oder einem Großelternteil lebenden Kinder zustand.

1. Ein in Deutschland lebender Elternteil hat Anspruch auf Kindergeld für sein Kind, das einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG); gleichgestellt sind EWR-Staaten und die Schweiz.

2. Lebt ein Kind zusammen mit dem anderen Elternteil im Inland, dann steht diesem das Kindergeld zu, da bei mehreren Berechtigten an denjenigen gezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Leben Kind und Elternteil stattdessen zusammen im Ausland, dann fehlt es an einer Konkurrenz zu dem im Inland wohnenden Elternteil, weil die Kindergeldberechtigung grundsätzlich einen Inlandswohnsitz voraussetzt (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG).

3. Lebt das Kind jedoch zusammen mit dem anderen Elternteil in einem EU-Mitgliedstaat – sog. grenzüberschreitender Sachverhalt mit Unionsbezug – dann wird für beide ein gemeinsamer inländischer Wohnsitz fingiert. Dies ergibt sich seit dem 1.5.2010 aus der VO (EG) Nr. 883/2004 (Grundverordnung) sowie der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 987/2009. Infolge dieser Wohnsitzfiktion ergibt sich dann wieder eine nach § 64 EStG zu lösende Konkurrenzsituation; ausschlaggebend ist dann wiederum die Haushaltsaufnahme.

a) Der persönliche Anwendungsbereich der Grundverordnung wird für den im Inland lebenden Elternteil durch die Staatsbürgerschaft eines Mitglied­staates eröffnet (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004); der sachliche Anwendungsbereich ist eröffnet, weil das Kindergeld eine Familienleistung i.S.v. Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 ist. Auch ist Deutschland der für die Erbringung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und e der VO Nr. 883/2004).

b) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der ...

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