Rz. 61

Während indirekte Steuern nach Maßgabe der Art. 90–93 AEUV zu harmonisieren sind[1], sieht der AEUV einen vergleichbaren Auftrag für direkte Steuern, zu denen auch die Erbschaftsteuer zählt, nicht vor. Nach dem Subsidiaritätsprinzip bleibt die Regelung der direkten Steuern vielmehr grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten.[2] Der Bereich der direkten Steuern als solcher fällt beim gegenwärtigen Stand des EU-Rechts nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union, die Mitgliedstaaten dürfen die ihnen verbliebenen Befugnisse gleichwohl nur unter Wahrung des EU-Rechts ausüben.[3] Dahinter steht der Grundgedanke, dass die praktische Wirksamkeit des EU-Rechts (der sog. effet utile) der Grundfreiheiten in erheblicher Weise beeinträchtigt wäre, wenn die Mitgliedstaaten mittels steuerlicher Gestaltungsfreiräume die Wirkung der Grundfreiheiten beeinflussen könnten.[4] Die allgemeinen Bestimmungen der Grundfreiheiten schließen die Lücke, die dadurch entsteht, dass der AEUV keine Regelung dazu enthält, wie die nationalen Steuersysteme gestaltet sein müssen, um das Integrationsziel des Binnenmarkts nicht zu beeinträchtigen.[5] Wenn sich also einzelstaatliche Rechtsvorschriften über direkte Steuern auf die Ausübung der 4 Grundfreiheiten des AEUV – freier Verkehr von Waren, Personen (insbes. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) und Kapital – auswirken, ist jegliche offene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und jede versteckte Diskriminierung Gebietsfremder gegenüber Gebietsansässigen untersagt, wenn und weil ein Differenzierungskriterium sich überwiegend und typischerweise zum Nachteil ausländischer Staatsangehöriger auswirkt. Dies gilt auch für das Erbschaftsteuerrecht.[6]

[1] Die Zitierung (AEUV) erfolgt nach der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABlEG v. 7.6.2016, C 202.
[2] Eine Harmonisierungskompetenz könnte sich zwar aus der Rechtsangleichungsklausel des Art. 115 AEUV und der allgemeinen Kompetenzabrundungsklausel des Art. 352 AEUV ergeben; sie ist bislang kaum genutzt worden. Die Maßnahmen der EU in diesem Bereich beschränken sich bislang auf Teillösungen für bestimmte Fälle von Doppelbesteuerung und grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit.
[3] Vgl. m. w. N. EuGH v. 11.9.2008, C-43/07 (Arens-Sikken), BFH/NV 2009, 107; EuGH v. 17.1.2008, C-256/06 (Jäger), BFH/NV Beilage 2008, 120; EuGH v. 23.2.2006, C-513/03 (van Hilten-van der Heijden), BFH/NV Beilage 2006, 229. Vgl. auch die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Abbau grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse in der EU, KOM, 2011, 864 endg.; die Kommission regt nationale Maßnahmen zum Abbau der Doppelbesteuerung an, vgl. Commission Recommendation of regarding relief for double taxation of inheritances, (C/2011/8819).
[4] Wilms/Maier, UVR 2004, 327, 328.
[5] Fischer, Primäres Gemeinschaftsrecht und direkte Steuern, Frankfurt am Main 2001, 315.

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