Leitsatz

Dem EuGH wird folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er der Gewährung von (Differenz-)Kindergeld durch einen Wohnmitgliedstaat in den Fällen entgegensteht, in denen ein Kindergeldberechtigter – ebenso wie der andere Elternteil – in der Schweiz als Grenzgänger einer nicht selbstständigen Beschäftigung nachgeht und dort Familienleistungen für seine im Wohnmitgliedstaat lebenden Kinder bezieht, die geringer sind als das im Wohnmitgliedstaat vorgesehene Kindergeld?

 

Normenkette

§ 62, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG, Art. 267 AEUV, Art. 42 EG, Art. 13, Art. 73 VO Nr. 1408/71, Art. 10 VO Nr. 574/72.

 

Sachverhalt

Der Kläger wohnt zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Töchtern in Deutschland. Beide Ehegatten sind in der Schweiz (Kanton Thurgau) nicht selbstständig beschäftigt. Der Kläger erhielt in Deutschland Kindergeld. Nachdem die Familienkasse erfahren hatte, dass er für seine Töchter eine Kinder- bzw. Ausbildungszulage von monatlich jeweils 190 CHF nach dem Recht des Kantons Thurgau bezog, hob sie die Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG ab Juni 2002 auf und forderte 5.544 EUR zurück.

Das FG Baden-Württemberg wies die Klage auf Differenzkindergeld ab (Urteil vom 6.5.2005, 2 K 365/04, Haufe-Index 1418668, EFG 2005, 1785). Ein Anspruch des Klägers sei durch Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ausgeschlossen.

 

Entscheidung

Der BFH hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem EuGH die im Leitsatz bezeichnete Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.

 

Hinweis

Bei der Besprechungsentscheidung handelt es sich um einen weiteren Beschluss, durch den das Kindergeld betreffende gemeinschaftsrechtliche Konkurrenzfragen geklärt werden sollen.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH hat eine Person, die nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines ausländischen Mitgliedstaats unterliegt, auch dann keinen Anspruch auf deutsches Kindergeld, wenn sie an sich die Voraussetzungen der §§ 62ff. EStG erfüllt (BFH, Beschluss vom 21.10.2010, III R 5/09, BFHE 231, 183, BFH/NV 2011, 360, BFH/PR 2011, 90).

2. Der EuGH geht ebenfalls grundsätzlich davon aus, dass ein Arbeitnehmer, für den die VO Nr. 1408/71 gilt, nur den Rechtsvorschriften eines Staats unterliegt (z.B. Urteil in der Rechtssache Schwemmer vom 14.10.2010, C-16/09, ZESAR 2011, 86).

3. Zweifelhaft ist jedoch, inwieweit das Bosmann-Urteil des EuGH vom 20.5.2008 (C-352/06, Slg. 2008, I‐3827) den Grundsatz der Einordnung in lediglich ein soziales Sicherungssystem aufgeweicht hat. Frau Bosmann wohnte mit ihren volljährigen Kindern in der Bundesrepublik. Nachdem sie eine Beschäftigung in den Niederlanden aufnahm, verlor sie ihren deutschen Kindergeldanspruch; die Niederlande gewähren kein Kindergeld für volljährige Kinder. Der EuGH entschied, dass das Gemeinschaftsrecht die deutschen Behörden nicht verpflichte, Frau Bosmann Kindergeld zu gewähren, es ihnen jedoch auch nicht verbiete. Die Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 seien "im Licht" des Art. 42 des EG-Vertrags auszulegen, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern solle. Wanderarbeiter sollten daher nicht Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten, weil sie das Recht auf Freizügigkeit ausgeübt und damit das Sozialrechtsstatut gewechselt hätten.

4. Die VO 1408/71 gilt auch im Verhältnis zur Schweiz. Wer in Deutschland wohnt und in der Schweiz nicht selbstständig tätig ist, kann nach dem Ausschließlichkeitsprinzip des Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 nur dort Familienleistungen beanspruchen; in Deutschland besteht auch kein Anspruch auf Differenzkindergeld.

Wären allerdings die Ausführungen des EuGH im Bosmann-Urteil dahin zu verstehen, dass ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht und eine Beschäftigung in einem ausländischen Mitgliedstaat aufnimmt, insgesamt keine geringeren Familienleistungen erhalten darf als vor seiner Grenzgängertätigkeit, dann käme die Leistung von Differenzkindergeld in Betracht. Dies widerspräche dem Ausschließlichkeitsprinzip, das aber nach der Rechtsprechung des EUGH keine absolute Regel darstellt.

5. Das BVerfG hat einen Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld in einem Fall verneint, in dem ein mit seiner Familie in Deutschland wohnender Kindergeldberechtigter in der Schweiz als Ar­beitnehmer beschäftigt war und dort Familienleistungen für seine in Deutschland lebenden Kinder bezog (BVerfG-Beschluss vom 8.6.2004, 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570). Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 enthielten ein geschlossenes System von Kollisionsnormen. Dieses nehme dem nationalen Gesetzgeber die Befugnis, Geltungsbereich und Anwendungsvoraussetzungen seiner Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihnen unterlägen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalteten. Unterliege ein deutscher Grenzgänger den Rechtsvorschriften eines andere...

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