Verfahrensgang

LSG Berlin (Beschluss vom 22.08.2002; Aktenzeichen L 9 B 106/02 KR ER)

SG Berlin (Beschluss vom 18.07.2002; Aktenzeichen S 75 KR 3737/01 ER 02)

LSG Berlin (Beschluss vom 10.07.2002; Aktenzeichen L 15 B 39/02 KR ER)

SG Berlin (Beschluss vom 21.06.2002; Aktenzeichen S 85 KR 1296/02 ER)

LSG Berlin (Beschluss vom 29.05.2002; Aktenzeichen L 9 B 20/02 KR ER)

 

Tenor

Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2002 – L 9 B 20/02 KR ER – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die weiteren angegriffenen Gerichtsentscheidungen werden damit gegenstandslos.

Zugleich erledigt sich damit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versorgung von gesetzlich Krankenversicherten mit Arzneimitteln, die außerhalb ihres arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsbereichs verabreicht werden sollen.

I.

1. Der gesetzlich krankenversicherte Beschwerdeführer leidet an einer lebensbedrohenden chronischen Lungenerkrankung. Eine spezielle medikamentöse Behandlung führt dazu, dass sein Gesundheitszustand auch längerfristig auf einem relativ stabilen Niveau gehalten werden kann. Bei der Behandlung kommt ein Arzneimittel „Ilomedin”) zur Anwendung, das arzneimittelrechtlich nur für eine andere Indikation zugelassen ist. Der Beschwerdeführer hat sich bis jetzt der medikamentösen Behandlung in stationärer Form unterzogen, weil seine Krankenkasse die Kosten für eine ambulante Behandlung, etwa 1.000 Euro pro Tag, wegen der fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung nicht zu tragen bereit ist.

2. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hat der Beschwerdeführer versucht, die Krankenkasse gerichtlich zu verpflichten, ihn vorläufig ambulant mit dem Medikament zu versorgen. Damit hatte er beim Sozialgericht zunächst Erfolg. Auf die Beschwerde der beklagten Krankenkasse hin lehnte das Landessozialgericht seinen Antrag auf Grund einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten mit Beschluss vom 29. Mai 2002 ab. Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise auch die ambulante Versorgung mit einem zulassungsfremd eingesetzten Arzneimittel zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre, seien nicht glaubhaft gemacht. In der Folgezeit hat der Beschwerdeführer mehrfach vergeblich versucht, eine Abänderung dieses Beschlusses zu erreichen. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht haben sich auf die Rechtskraft des Beschlusses vom 29. Mai 2002 berufen und keinen Grund für eine erneute Entscheidung in der Sache gesehen.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2002 sowie die nachfolgenden Gerichtsentscheidungen. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Sie hat angekündigt, sie übernehme die Kosten für die stationäre Behandlung – unter Vorbehalt eines Regresses – nur bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c BVerfGG sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist hinreichend geklärt, welche Anforderungen sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für den vorläufigen Rechtsschutz ergeben, wenn dessen Versagung zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führt (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫; 94, 166 ≪216≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1996, NVwZ 1997, S. 479).

2. Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2002 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Die vom Gericht durchgeführte summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache genügt angesichts der besonderen Umstände des Falls nicht dem Gebot effektiven Rechtsschutzes.

a) Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫; 94, 166 ≪216≫). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1996, a.a.O.).

b) Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes führt im vorliegenden Fall zu schweren und unzumutbaren Nachteilen für den Beschwerdeführer. Er kann, sollte ihm vorläufiger Rechtsschutz nicht gewährt werden, die erforderliche medikamentöse Behandlung künftig weder stationär noch ambulant als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse erhalten. Nach der Einschätzung der den Beschwerdeführer behandelnden Ärzte, von der das Bundesverfassungsgericht nach Aktenlage auszugehen hat, befindet sich der Beschwerdeführer, sofern er das in Frage stehende Medikament nicht mehr erhält, in einer lebensbedrohlichen Situation.

c) In einem solchen Fall kann eine Entscheidung der Gerichte über die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem in Frage stehenden Medikament nicht ohne Berücksichtigung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgen. In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland haben Leben und körperliche Unversehrtheit hohen Rang. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt allgemein die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 ≪73≫). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der im Grundrecht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 ≪41≫) gerecht werden (vgl. BVerfGE 53, 30 ≪65≫). Daraus folgt in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass das Landessozialgericht im vorliegenden Fall aufgrund der gesundheitlichen Situation des Beschwerdeführers eine besonders intensive und nicht nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten oder – was hier mit Rücksicht auf die komplizierte Sach- und Rechtslage näher liegt – eine Folgenabwägung vorzunehmen hat, welche die verfassungsrechtlich geschützten Belange des Beschwerdeführers hinreichend zur Geltung bringt. Es gelten hier die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, wenn von der Entscheidung in einem gerichtlichen Verfahren mittelbar Lebensgefahr für den Einzelnen ausgehen kann (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219 ff.≫ zur Suizidgefahr bei Zwangsvollstreckung). Dabei hat das Gericht auch zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin nunmehr – vorbehaltlich einer gerichtlichen Entscheidung – auch die Kosten für die stationäre Behandlung zu tragen nicht mehr bereit ist.

3. Der dargestellte Rechtsverstoß führt zur Verfassungswidrigkeit des Beschlusses und zu dessen Aufhebung. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Landessozialgericht unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zugunsten des Beschwerdeführers entscheidet.

III.

1. Der Beschluss des Landessozialgerichts ist aufzuheben, ohne dass es noch auf die zusätzlich erhobene Gehörsrüge ankommt. Die Sache ist an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (vgl. § 93 c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG), damit über die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2001 – S 75 KR 3737/01 ER – erneut entschieden werden kann.

2. Die weiteren mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidungen sind damit gegenstandslos. Ihre Beschwer, die im Wesentlichen nur in der Aufrechterhaltung des Beschlusses vom 29. Mai 2002 bestanden hat, ist mit dessen Aufhebung entfallen.

3. Da der Beschwerdeführer von vornherein nur eine vorläufige Regelung bis zur Entscheidung über die Hauptsache begehrt hat, erledigt sich mit dem vorliegenden Beschluss der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2, 3 BVerfGG. Die Erstattung der Auslagen auch für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht angezeigt, weil dem Beschwerdeführer zugemutet werden konnte, die in Wochen bemessene Fortdauer der stationären Behandlung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auf sich zu nehmen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Hoffmann-Riem

 

Fundstellen

Haufe-Index 1267200

NJW 2003, 1236

NVwZ 2003, 862

NZS 2003, 253

SGb 2003, 402

JURAtelegramm 2003, 190

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