Orientierungssatz

Parallelentscheidung zu dem Urteil des BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R, das vollständig dokumentiert ist.

 

Verfahrensgang

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.03.2020; Aktenzeichen L 1 KR 155/18)

SG Frankfurt (Oder) (Urteil vom 18.04.2018; Aktenzeichen S 27 KR 315/14)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Zahlung von weiterem Krankengeld (Krg) für die Zeit vom 15.11.2014 bis 6.7.2017.

Die 1959 geborene Klägerin war seit 9.10.2013 als Bezieherin von Arbeitslosengeld nach dem SGB III bei der beklagten Krankenkasse (KK) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) pflichtversichert bis 21.10.2014. Die behandelnde Vertragsärztin (Hausärztin, Fachärztin für Allgemeinmedizin) bescheinigte ihr am 10.10.2014 fortdauernde Arbeitsunfähigkeit (AU) wegen einer Entzündung der Schultergelenkkapsel bis 30.10.2014 (zuvor jeweils abschnittsweise AU-Feststellungen seit Erstfeststellung von AU ab 10.9.2014). Ab 22.10.2014 zahlte die Beklagte der Klägerin Krg. Auf Veranlassung der Beklagten untersuchte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) die Klägerin am 29.10.2014. Nach dem Gutachten vom selben Tag sei die Klägerin ausreichend belastbar für eine leichte angemessene Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ab 8.11.2014 (insoweit) nicht weiter arbeitsunfähig. Die Beklagte stellte daraufhin das Ende der AU und der Zahlung von Krg am 7.11.2014 fest (Bescheid vom 30.10.2014; Widerspruchsbescheid vom 12.12.2014).

Am 30.10.2014 stellte die Vertragsärztin der Klägerin eine Folge-AU-Bescheinigung bis 7.11.2014 aus. Am 6.11.2014 bescheinigte sie ihr auf einem Auszahlschein für Krg fortdauernde AU bis 14.11.2014 (Freitag). Die nächste Folge-AU-Bescheinigung stellte die Vertragsärztin am 17.11.2014 (Montag) bis 25.11.2014 aus. Die Beklagte führte die Klägerin vom 8.11.2014 bis 15.6.2015 aufgrund ihres Antrags auf Rente wegen Erwerbsminderung als Rentenantragstellerin nach § 189 SGB V und nach dessen Ablehnung ab 16.6.2015 als freiwillig Versicherte nach § 188 Abs 4 SGB V. Seit 7.7.2017 ist die Klägerin als Sekretärin sozialversicherungspflichtig bei ihrem Ehemann beschäftigt.

Im Klageverfahren vor dem SG gegen den Bescheid vom 30.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2014 hat die Beklagte diese Bescheide geändert und einen Anspruch der Klägerin auf Krg auch für die Zeit vom 8. bis 14.11.2014 anerkannt; die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen. Das SG hat die weitergehende Klage auf Zahlung von Krg für die Zeit über den 14.11.2014 hinaus abgewiesen (Urteil vom 18.4.2018).

Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Klägerin habe ab 15.11.2014 keinen Anspruch auf Krg. Sie sei zwar auch über den 14.11.2014 hinaus weiter arbeitsunfähig, aber nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V nicht mehr mit Anspruch auf Krg ab 15.11.2014 versichert gewesen. Die ursprüngliche, während des Krg-Bezugs bis zum 14.11.2014 fortgesetzte Pflichtversicherung mit Anspruch auf Krg habe ab 15.11.2014 nicht mehr bestanden, weil die fortdauernde AU der Klägerin nicht spätestens am 14.11.2014 ärztlich festgestellt worden sei. Anderes ergebe sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf Urteil des Senats vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8), weil die Klägerin nicht alles ihr Mögliche und Zumutbare getan habe, um rechtzeitig eine ärztliche Folge-AU-Feststellung zu erlangen. Darauf, dass nach den Behauptungen der Klägerin ihr Ehemann am 13.11.2014 (Donnerstag) mit ihrer Ärztin telefoniert und diese erklärt habe, am 14.11.2014 (Freitag) nicht da zu sein und dass es ausreiche, am 17.11.2014 (Montag) zu erscheinen, weil die AU-Bescheinigung rückwirkend ausgestellt werden könne, komme es nicht an. Fehlberatungen einer vertragsärztlichen Praxis entlasteten Versicherte grundsätzlich nicht gegenüber der KK. Hiervon sei bei der Klägerin - mangels eines dafür nach der Rechtsprechung des BSG nötigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts spätestens am 14.11.2014 - keine Ausnahme zu machen (Urteil vom 11.3.2020).

Mit ihrer dagegen gerichteten Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung. Sie habe alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan, um ihre Ansprüche zu wahren, indem sie ihre Ärztin rechtzeitig persönlich habe aufsuchen wollen. Die verhinderte bzw verzögerte Feststellung der AU sei nicht ihrem, sondern dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzurechnen. Deren Vertragsärztin habe die Klägerin unter Hinweis auf die Zulässigkeit einer rückwirkenden Folge-AU-Bescheinigung davon abgehalten, noch bis spätestens 14.11.2014 die ärztliche Feststellung ihrer AU zu erreichen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des LSG Berlin-Brandenburg vom 11. März 2020 und des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 18. April 2018 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 30. Oktober 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Dezember 2014 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 18. April 2018 zu verurteilen, ihr Krankengeld vom 15. November 2014 bis 6. Juli 2017 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin - über die der Senat aufgrund des angekündigten Nichterscheinens der ordnungsgemäß geladenen Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden konnte (vgl § 227 Abs 1 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) - ist iS der Aufhebung der Entscheidung des LSG und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin entgegen der Auffassung der Vorinstanzen einen Anspruch auf Zahlung von Krg ab 15.11.2014 dem Grunde nach hat.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Entscheidungen der Vorinstanzen und der Bescheid der Beklagten vom 30.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2014 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 18.4.2018, durch die der von der Klägerin verfolgte Anspruch auf Zahlung von Krg über den 14.11.2014 hinaus abgelehnt worden ist. Richtige Klageart ist die auf Verurteilung der Beklagten gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), die als auf ein Grundurteil gerichtete Klage keiner Bezifferung bedarf (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Krg für beschäftigte Pflichtversicherte der GKV sind hier § 44 Abs 1 und § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung (§§ 44 und 46 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.7.2009, BGBl I 1990, 3578; im Folgenden: aF) iVm § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V, der den Erhalt der Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger bei Anspruch auf oder Bezug von Krg bestimmt.

Nach § 44 Abs 1 SGB V aF haben Versicherte Anspruch auf Krg ua dann, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Ob und in welchem Umfang Versicherte Krg beanspruchen können, bestimmt sich nach dem Versicherungsverhältnis, das im Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden Entstehungstatbestands für das Krg vorliegt (stRspr, vgl nur BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 8; BSG Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 15). Nach § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V aF entsteht dieser Anspruch auf Krg von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt. Dies gilt auch für an die ärztliche Erstfeststellung von AU anschließende Folgefeststellungen (stRspr, vgl nur BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 13 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).

3. Von diesen Voraussetzungen für einen Anspruch der Klägerin auf Krg ab 15.11.2014 dem Grunde nach ist vorliegend zwischen den Beteiligten im Streit, ob am 15.11.2014, dem ersten Tag nach dem Ende der zuletzt bis 14.11.2014 ärztlich festgestellten AU, noch eine Versicherung mit Anspruch auf Krg bestand.

a) Für den Anspruch auf Krg ist insoweit erforderlich, dass an diesem Tag dieser Versicherungsschutz noch mit Blick auf § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V fortbestand. Dies erforderte einen lückenlosen Krg-Anspruch oder Krg-Bezug, der nach § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V aF nach stRspr des BSG auch bei fortbestehenden Dauererkrankungen erst vom Folgetag der ärztlichen AU-Feststellung an entsteht. Daher muss eine erneute ärztliche AU-Feststellung - ohne dass ein Karenztag eintritt - spätestens am letzten Tag des zuvor bescheinigten AU-Zeitraums erfolgen (s erneut BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 13 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).

Im Falle der Klägerin erfolgte keine erneute ärztliche AU-Feststellung spätestens am letzten Tag des zuvor bescheinigten AU-Zeitraums, dem 14.11.2014. Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Krg-Gewährung nötigen AU-Feststellung beendete damit an sich die nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V aufrechterhaltene Pflichtmitgliedschaft und den Krankenversicherungsschutz mit Krg-Anspruch ab dem 15.11.2014. Grundsätzlich hat der Versicherte iS einer Obliegenheit dafür Sorge zu tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolgt (stRspr, vgl nur BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 17, 22; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).

Sinn und Zweck all dessen ist es, beim Krg Leistungsmissbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung der AU und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnten (BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 17; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20; zu diesem Zweck vgl auch BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 3 KR 23/18 R - SozR 4-2500 § 16 Nr 4 RdNr 29 f). Hieran ist auch die ausnahmsweise Zulassung von rückwirkenden Nachholungen von AU-Feststellungen bzw von nicht lückenlosen AU-Feststellungen zu messen.

b) Von diesen grundsätzlichen Erfordernissen sind in der Rechtsprechung des BSG allerdings enge Ausnahmen anerkannt worden (vgl nur - jeweils mwN - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 26 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 21 ff; vgl auch - zur Meldung nach § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V - BSG Urteil vom 8.8.2019 - B 3 KR 6/18 R - BSGE 129, 20 = SozR 4-2500 § 49 Nr 9, RdNr 22 ff).

Der Senat hat insoweit bereits mit seinem Urteil vom 11.5.2017 (BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 25 ff für die Rechtslage bis 22.7.2015) unter Fortentwicklung und Teilaufgabe früherer Rechtsprechung entschieden, dass eine Lücke in den ärztlichen AU-Feststellungen nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen (BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 24 mwN), sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern eines Vertragsarztes im Zusammenhang mit der AU-Feststellung für den Versicherten unschädlich ist, wenn sie der betroffenen KK zuzurechnen ist. Nach dieser Rechtsprechung steht dem Krg-Anspruch eine erst verspätet erfolgte ärztliche AU-Feststellung nicht entgegen, wenn

1. der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um

(a) die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erreichen, und

(b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krg-Anspruch erfolgt ist,

2. er an der Wahrung der Krg-Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (zB eine irrtümlich nicht erstellte AU-Bescheinigung), und

3. er - zusätzlich - seine Rechte bei der KK unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht (so BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 34).

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Versicherte so zu behandeln, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der AU erhalten.

c) Der Senat hat diese Rechtsprechung zuletzt mit seinem Urteil vom 26.3.2020 (B 3 KR 9/19 R - juris RdNr 22 ff für die Rechtslage bis 22.7.2015, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 46 Nr 10 vorgesehen) fortentwickelt und sie dahin konkretisiert, dass ein Versicherter auch dann Anspruch auf Krg bei AU ab dem Folgetag eines vereinbarten, zur ärztlichen Feststellung der AU rechtzeitigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts hat, wenn es zu diesem Kontakt aus dem Vertragsarzt und der KK zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist. Denn es steht einem "rechtzeitig" erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der AU gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat. Dies ist der Fall, wenn er rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt und der KK zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist.

Das ist typischerweise anzunehmen in Fällen einer auf Wunsch des Vertragsarztes bzw seines von ihm angeleiteten Praxispersonals erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Arzttermins in der (naheliegenden) Vorstellung, ein späterer Termin sei für den Versicherten leistungsrechtlich unschädlich, weil nach der AU-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) auch die begrenzte rückwirkende ärztliche AU-Feststellung statthaft sei. Gleiches kann anzunehmen sein in Fällen, in denen ein rechtzeitiger Arzttermin vereinbart werden sollte, vom Vertragsarzt oder seinem Personal aber ein späterer Termin vergeben worden ist in der Vorstellung, dies sei für den Versicherten unschädlich. In diesen Fällen liegen die Gründe für das nicht rechtzeitige Zustandekommen eines Termins zur ärztlichen Folge-AU-Feststellung jeweils in der Sphäre des Vertragsarztes (vgl zur Einbindung der Vertragsärzte in das GKV-System nur § 2 Abs 2, § 72 Abs 1 und 2, § 73 Abs 2, § 75 Abs 1, § 76 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB V) und nicht in derjenigen des Versicherten. Der Versicherte ist aber selbst bei einem nicht rechtzeitig erfolgten Termin zur ärztlichen Feststellung der (Folge-)AU nicht von seiner Obliegenheit befreit, einen Arzttermin zur Feststellung der AU - wenn auch verspätet - persönlich wahrzunehmen, um seinen Anspruch auf Krg aufrechtzuerhalten.

Für die Gleichstellung des aus den vorgenannten Gründen unterbliebenen rechtzeitigen Arzt-Patienten-Kontakts mit einem tatsächlich erfolgten Kontakt spricht, dass die Obliegenheiten des Versicherten auf das in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare beschränkt sind. Ein "Arzt-Hopping", das ohnehin grundsätzlich unerwünscht ist (vgl § 76 Abs 3 Satz 1 SGB V), statt des nachvollziehbaren Wunsches, von dem mit der AU schon vertrauten (hier: Haus-)Arzt weiterbetreut zu werden, kann von ihm grundsätzlich nicht verlangt werden. Für Versicherte fallen zudem ihr soziales Schutzbedürfnis in der GKV zu ihrer finanziellen Absicherung im Krankheitsfall (s auch § 2 Abs 2 und § 4 Abs 2 Satz 1 Nr 2, § 21 Abs 1 Nr 2 Buchst g SGB I) und die Verhältnismäßigkeit von leistungsrechtlichen Folgen bei tatsächlichen Fristversäumnissen ins Gewicht (verfassungsrechtliches Übermaßverbot). Generalpräventive Erwägungen der Missbrauchsabwehr haben dagegen, vor allem in zweifelsfreien Folge-AU-Fällen, kein solch großes Gewicht, dass sie diese Schutzaspekte überlagern und verdrängen könnten.

Für diese Auslegung des § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V aF und Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung hat der Senat sich zudem zum einen darauf gestützt, dass sich Versicherungsträger in ihrem Verwaltungshandeln am Rechtsgedanken von Treu und Glauben (vgl § 242 BGB) auszurichten haben, welcher auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts Anwendung findet. Zum anderen hat der Senat auf den Rechtsgedanken des § 162 Abs 1 BGB Bezug genommen, dass niemand - auch kein Träger öffentlicher Verwaltung - aus seinem eigenen treuwidrigen Verhalten, das er (oder ein seiner Sphäre zuzurechnender Dritter) einer ihm rechtlich verbundenen Person gegenüber gezeigt hat, einen Vorteil ziehen darf (s im Einzelnen BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - juris, RdNr 25 f, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 46 Nr 10 vorgesehen).

In diesem Sinne dürfen auch KKn gegenüber dem Krg-Anspruch ihrer Versicherten nicht einwenden, der dafür erforderliche Arzt-Patienten-Kontakt sei nicht rechtzeitig zustande gekommen, wenn dies auf Gründen beruht, die

1. in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht des Versicherten) liegen, und die

2. auch den KKn zuzurechnen sind.

Es ist dann gerechtfertigt und vom Normzweck der gesetzlichen Regelungen zum Krg gedeckt, dass sich die KK nicht auf eine dem vertragsärztlichen System anzulastende Verhinderung der rechtzeitigen AU-Feststellung berufen darf.

Der Senat hat diese Zurechnung fehlerhaften Arztverhaltens zu den KKn (bezogen auf deren Sozialversicherungsverhältnis zu ihren Versicherten) in seinen Urteilen vom 11.5.2017 und 26.3.2020 mit einer missverständlichen Fassung der AU-RL des GBA begründet. Die AU-RL (hier noch anzuwenden idF vom 14.11.2013, BAnz AT 27.1.2014 B4, in Kraft getreten am 28.1.2014) erlaubt den Vertragsärzten als Leistungserbringern im GKV-System in dem sie selbst betreffenden vertragsärztlichen Pflichtenkreis ausdrücklich eine zeitlich begrenzte Rückdatierung und rückwirkende Bescheinigung der AU (§ 5 Abs 3, s auch § 6 Abs 2 AU-RL). Die Vertragsärzte werden in dem Regelwerk zugleich allerdings nicht - was geboten wäre - deutlich auf die damit verbundenen ganz erheblichen leistungsrechtlichen Nachteile für die Krg-Ansprüche der sie aufsuchenden Versicherten der GKV hingewiesen. Entsprechend hervorgerufene bzw aufrechterhaltene Fehlvorstellungen bei Vertragsärzten über deshalb auch vermeintlich den Versicherten in ihrem Verhältnis zu deren KK unschädliche leistungsrechtliche Folgen rückwirkender AU-Feststellungen sind den KKn als maßgebliche Mitakteure im GBA (vgl näher § 91 SGB V) und Anspruchsgegner der Krg-Ansprüche Versicherter zuzurechnen (vgl zum Ganzen BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 31 ff; BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - juris, RdNr 28, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 46 Nr 10 vorgesehen; vgl zu diesem Begründungszusammenhang auch Schifferdecker in Kasseler Komm, § 46 SGB V RdNr 47c, Stand Mai 2020).

4. Gemessen an den Ausführungen unter 3. c) kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin einen Anspruch auf Zahlung von Krg ab 15.11.2014 dem Grunde nach hat. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat revisionsrechtlich bindenden Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) hatte die Klägerin zwar bis zum 14.11.2014 keinen zur ärztlichen Feststellung der AU rechtzeitigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt. Indes hat das LSG mit der Forderung nach einer rechtzeitigen persönlichen Vorstellung der Klägerin bei einem Arzt seine rechtliche Prüfung unzutreffend vorzeitig beendet, weil es dieser noch nicht die Vorgaben aus dem erst später ergangenem Urteil des Senats vom 26.3.2020 (BSG aaO) zugrunde legen konnte. Es hat das Vorbringen der Klägerin zum Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausnahme vom grundsätzlich erforderlichen rechtzeitigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt nicht hinreichend geprüft und hierfür erforderliche Feststellungen - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt konsequent - nicht getroffen. Dies führt zur Aufhebung und Zurückverweisung, um im wiedereröffneten Berufungsverfahren weitere tatsächliche Feststellungen treffen zu können.

5. Das LSG wird insbesondere zu prüfen haben, ob ein - und ggf welcher - für die Feststellung der Folge-AU rechtzeitiger Arzttermin vereinbart worden war oder vereinbart werden sollte und aus welchen Gründen dieser Termin ggf nicht rechtzeitig, sondern erst verspätet am 17.11.2014 zustande kam. Etwaige durch vertragsärztliches Handeln bedingte Gründe wird das LSG unter dem Gesichtspunkt zu würdigen haben, ob diese der Beklagten und nicht der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Versicherte der Beklagten zuzurechnen sind, und ob die Klägerin darauf vertrauen durfte, dass ihr die Gründe gegenüber der Beklagten in Bezug auf ihre Krg-Ansprüche nicht schadeten (zu Kriterien hierfür s BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - juris, RdNr 29, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 46 Nr 10 vorgesehen; s auch Parallelentscheidung BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 10/19 R - juris, RdNr 30; vgl zu Fragen des vertragsärztlichen Handelns, auf das Versicherte vertrauen können und das sich KKn zurechnen lassen müssen, auch BSGE 129, 20 = SozR 4-2500 § 49 Nr 9, RdNr 29 ff). Das durchgehende Fortbestehen der tatsächlich erst am 17.11.2014 rückwirkend ab 15.11.2014 festgestellten Folge-AU der Klägerin hat das LSG nicht in Zweifel gezogen.

Im Fall des Vorliegens aller Voraussetzungen eines Krg-Anspruchs ab 15.11.2014 dem Grunde nach wird das LSG auf der Grundlage entsprechender Tatsachenfeststellungen eine Entscheidung über die Dauer und das Ende des der Klägerin zustehenden Krg-Anspruchs zu treffen haben, der hier wegen AU aufgrund unterschiedlicher Diagnosen bis zum 6.7.2017 geltend gemacht wird (zu Kriterien hierfür s BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - juris, RdNr 30, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 46 Nr 10 vorgesehen; s auch Parallelentscheidung BSG Urteil vom 26.3.2020 - B 3 KR 10/19 R - juris, RdNr 31 f; vgl zum Fortbestehen und Ende des Krg-Anspruchs auch BSG Urteil vom 25.10.2018 - B 3 KR 23/17 R - BSGE 127, 53 = SozR 4-2500 § 49 Nr 8, RdNr 12, 15).

6. Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14263643

NZS 2021, 406

SGb 2021, 36

GesR 2021, 376

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