Entscheidungsstichwort (Thema)

Übergangsrecht. ehemalige DDR. Arbeitsunfall. Antrag auf Weiterzahlung einer DDR-Unfallrente. Antragsverfahren nach dem FRG. Feststellungssperre. Auslegung. wirklicher Wille

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Auslegung eines Antrags auf Nach- und Weiterzahlung einer DDR-Unfallrente, den ein im Jahre 1989 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelter früherer Bezieher einer solchen Leistung nach der Wiedervereinigung bei Stellen im Beitrittsgebiet gestellt hat.

Stand: 12. November 2001

 

Normenkette

SGB I § 16 Abs. 2 S. 2; RVO § 1150 Abs. 2 Sätze 1-2, § 1154 Abs. 1 S. 1; BGB § 133; EinigungsV Art. 19; EinigungsV Anlage I Kap. VIII D II Nr. 1 Buchst. a; EinigungsV Anlage I Kap. VIII D

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.11.2000; Aktenzeichen L 2 U 2157/96)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 19.06.1996; Aktenzeichen S 3 U 1929/95)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. November 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Juni 1996 (Az: S 3 U 1929/95) sowie der Bescheid der Beklagten zu 1) vom 25. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1993 in vollem Umfang und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Juni 1996 (Az: S 3 U 271/95), soweit die Klage abgewiesen worden ist, aufgehoben.

Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Januar 1992 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte zu 1) hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu einem Drittel, die Beklagte zu 2) zu zwei Dritteln zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob und gegebenenfalls gegen welchen der beteiligten Unfallversicherungsträger der Kläger wegen der Folgen von zwei in der ehemaligen DDR erlittenen Unfällen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente ab 1. Januar 1992 hat.

Der am 14. November 1949 geborene Kläger erlitt am 5. November 1982 in der ehemaligen DDR als Beschäftigter einen Arbeitsunfall, bei dem er sich Schnittverletzungen am 1. und 3. Finger rechts mit einer knöchernen Absprengung am 1. Finger zuzog, und am 8. Oktober 1984 einen weiteren Arbeitsunfall, bei dem er eine Fraktur des Kopfbeins des linken Handgelenks erlitt. Für beide Arbeitsunfälle erhielt er vom FDGB-Kreisvorstand H. (Sachsen) eine Unfallrente nach einem Gesamtkörperschaden von 20 vH (Bescheid vom 2. Juli 1987).

Nach Aberkennung der „Staatsbürgerschaft der DDR” siedelte der Kläger am 15. November 1989 in die Bundesrepublik Deutschland über, wo ihm der Vertriebenenausweis A. ausgestellt wurde. Im November 1990 meldete er in einem Schreiben an die Stadtverwaltung O. (Sachsen) vermögensrechtliche Ansprüche in Zusammenhang mit einem Grundstück an und erklärte darin auch, er mache hiermit seinen Anspruch auf Zahlung sowie Rückzahlung seiner Unfallrente geltend, die ihm im Oktober 1989 durch das „Regime der SED-FDGB” entzogen worden sei. Nach einem an die genannte Stelle gerichteten Erinnerungsschreiben im August 1991 wandte er sich im selben Jahre in der Grundstücksangelegenheit mehrfach an das Landratsamt H., an das sein Schreiben vom November 1990 schon im Jahre 1990 zuständigkeitshalber weitergeleitet worden war, übersandte dabei Kopien dieses Schreibens sowie sonstiger Unterlagen über seine Unfallrente und bat um Überprüfung, „wo die Gelder geblieben sind.” Weiterhin ging beim „FDGB-Kreisvorstand – Verwaltung der Sozialversicherung – H.” am 24. Januar 1992 ein Schreiben des Klägers vom 27. Dezember 1991 ein, in welchem er erklärte, seinen Rentenanspruch mit Schreiben vom 2. November 1990 an die Stadtverwaltung O. geltend gemacht zu haben und daß er diesen Anspruch hiermit nochmals geltend mache.

Bei einer persönlichen Vorsprache am 5. März 1992 beantragte der Kläger bei der Beklagten zu 1) und mit Schreiben vom 1. September 1992 bei der Beklagten zu 2) die Weiterzahlung seiner in der DDR erhaltenen Unfallrente. Der bei der Beklagten zu 1) gestellte Antrag wurde abgelehnt, da keine Folgen des Unfalls vom 5. November 1982 mehr bestünden (Bescheid vom 25. September 1992 und Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1993). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage im Verfahren S 3 U 1929/95 abgewiesen (Urteil vom 19. Juni 1996).

Die Beklagte zu 2) lehnte die Gewährung einer Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls vom 8. Oktober 1984 gleichfalls ab, weil die Folgen des Unfalls keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade bedingten (Bescheid vom 2. November 1993 und Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 1995). Das SG hat im Verfahren S 3 U 271/95 den Bescheid vom 2. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1995 aufgehoben, weil die Beklagte zu 2) wegen der bereits vor dem 1. Januar 1992 gestellten Anträge zur Bescheiderteilung unzuständig gewesen sei. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, da Folgen des Unfalls keine signifikanten Befunde mehr hinterlassen hätten (Urteil vom 19. Juni 1996).

Das Landessozialgericht (LSG) hat die beiden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und nach weiteren Ermittlungen zur Höhe der unfallbedingten MdE „die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Juni 1996” (gemeint sind aber die beiden genannten Urteile des SG) zurückgewiesen. Dieser habe weder gegen die Beklagte zu 1), noch gegen die Beklagte zu 2), noch gegen die Beigeladene einen Anspruch auf Verletztenrente. Als Anspruchsgrundlage für den ab 1. Januar 1992 geltend gemachten Unfallrentenanspruch komme § 1150 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Betracht, der nach § 215 Abs 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) weiterhin anwendbar bleibe. Jedoch sei die Ausnahmeregelung des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO erfüllt. Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmales, ob ein Arbeitsunfall nach dem Fremdrentengesetz (FRG) mit Wirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 anerkannt worden sei, sei in zeitlicher Hinsicht darauf abzustellen, ob bereits zu diesem Zeitpunkt ein Antragsverfahren nach dem FRG in Gang gekommen sei. Dieses aber ergebe sich aus den beigezogenen Unterlagen der Stadt C., nach denen der Kläger mit Schreiben von „August und November 1991”, die beide vor dem 31. Dezember 1991 bei der Stadtverwaltung O. bzw beim Landratsamt H. eingegangen seien, seinen Anspruch auf Weiterzahlung der Rente geltend gemacht habe. Daß „diese Behörde”, die gemäß § 16 Abs 1 Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) zur Annahme der Anträge und gemäß § 16 Abs 2 Satz 1 SGB I zur unverzüglichen Weiterleitung an den zuständigen Leistungsträger verpflichtet gewesen sei, dies nicht getan habe, ändere nichts an deren wirksamen Zugang. Diese Anträge könne der Kläger auch nicht mehr zurücknehmen, weil dem § 46 Abs 2 SGB I entgegenstehe und im übrigen ein derartiger Verzicht rechtmißbräuchlich sei.

Weiterhin setze eine Anerkennung nach dem FRG nur die Anerkennung eines Versicherungsfalles, nicht auch eines Leistungsfalles voraus. Dies sei dann der Fall, wenn die Voraussetzungen der §§ 548 bzw 551 RVO gegeben seien. Eine Anerkennung des Arbeitsunfalls nach dem FRG liege vor; denn sowohl im angefochtenen Bescheid der Beklagten zu 1) als auch in dem der Beklagten zu 2) werde das schädigende Ereignis als Arbeitsunfall bewertet. Die Entschädigung richte sich damit gemäß § 5 Abs 1 Nr 1 iVm § 7 FRG nach den Vorschriften der RVO. Die Voraussetzungen für die Annahme eines Arbeitsunfalls nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO lägen auch vor. Dies ergebe sich aus den beigezogenen Unterlagen des FDGB-Kreisvorstandes und sei zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Ebenso unstreitig seien die Gesundheitsstörungen, die der Kläger erlitten habe. Die Folgen des Arbeitsunfalls von 1982 bedingten lediglich eine MdE um 10 vH, die des Unfalls von 1984 bedingten keine MdE. Damit seien auch die Voraussetzungen für die Gewährung einer Stützrente nicht erfüllt.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 1150 Abs 2 iVm § 1154 Abs 1 RVO. Er habe vor dem 1. Januar 1992 nicht die Zahlung einer Rente nach dem FRG beantragt, sondern die Weiterzahlung seiner DDR-Rente. Selbst wenn davon auszugehen sei, daß ein – vor dem Jahre 1992 – auf Weiterzahlung der Rente gestellter Antrag stets als ein Antrag nach dem FRG zu behandeln sei, hätte er einen Herstellungsanspruch auf Anerkennung und Gewährung seiner zu DDR-Zeiten anerkannten Unfallrente. Denn er hätte auf die Möglichkeit hingewiesen werden müssen, daß er über seinen Antrag noch verfügen und ihn zurücknehmen könne. Außerdem habe er sämtliche gestellten Anträge zu einem Zeitpunkt zurückgenommen, als über seinen Antrag auf Weitergewährung seiner DDR-Rente noch gar nicht entschieden worden sei. Das Regelungskonzept der §§ 1150 ff RVO sehe die Übernahme des anerkannten Gesamtschadens gemäß dem Ausgangsbescheid vom 2. Juli 1987 vor, daher sei ihm antragsgemäß Unfallrente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. November 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Juni 1996 (Az: S 3 U 1929/95) sowie den Bescheid der Beklagten zu 1) vom 25. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1993 in vollem Umfang und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Juni 1996 (Az: S 3 U 271/95) aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und die Beklagte zu 1) und/oder die Beklagte zu 2), hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, ihm ab dem 1. Januar 1992 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 vH zu gewähren.

Die Beklagten zu 1) und zu 2) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, hält jedoch das Urteil des LSG ebenfalls für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

II

Die Revision ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten zu 1) ist rechtswidrig. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten zu 2) als dem nach § 1159 RVO zur Leistungsgewährung zuständigen Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen seiner Unfälle in den Jahren 1982 und 1984.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus den Vorschriften des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO iVm § 1154 RVO, die nach § 215 Abs 1 SGB VII weiter anzuwenden sind. Nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gelten Arbeitsunfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten iS des Dritten Buches der RVO. Im Rahmen dieser Regelung werden im Beitrittsgebiet festgestellte Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in die gesetzliche Unfallversicherung als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten übernommen und weiter entschädigt. Sie sind dementsprechend ab 1. Januar 1992 in jeder Weise nach der RVO weiter zu behandeln, soweit die §§ 1151 bis 1160 keine Abweichungen enthalten (vgl KassKomm-Ricke, § 1150 RVO RdNr 3). Nach der Begründung zum Entwurf eines Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) werden mit dieser gesetzlichen Fiktion aus Gründen des Vertrauensschutzes alle vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten, die nach dem früheren Recht der DDR versichert waren, übernommen, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn es sich nach der RVO nicht um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gehandelt hätte (BT-Drucks 12/405 S 154).

Gemäß Art 19 des Einigungsvertrages (EinigVtr) vom 31. August 1990 (BGBl II 889, 1062, 1216) bleiben Anerkennungsbescheide der ehemaligen DDR, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangen sind, über den 2. Oktober 1990 hinaus grundsätzlich wirksam (Satz 1) und folglich iS des § 77 SGG bindend gegenüber dem Rechtsnachfolger. Sie können nach Satz 2 nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind (BSGE 76, 124 = SozR 3-8100 § 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 121 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61; BSGE 84, 22, 26 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5; BSG SozR 3-8110 Kap VIII H III Nr 1 – Nr 1). Durch die mit dem RÜG vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) erfolgte und am 1. Januar 1992 in Kraft getretene (vgl Art 42 Abs 1 RÜG) Regelung der Einzelheiten der Überleitung des Unfallversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet in den §§ 1148 ff RVO, insbesondere die gesetzliche Fiktion des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO, hat sich auch nichts an der grundsätzlichen Fortgeltung dieser Bescheide geändert (BSGE 76, 124, 126 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 123 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61).

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger im Beitrittsgebiet in den Jahren 1982 und 1984 je einen Arbeitsunfall erlitten und er dafür vom FDGB-Kreisvorstand H. eine Unfallrente nach einem Gesamtkörperschaden von 20 vH erhalten hatte. Der Bescheid des FDGB vom 2. Juli 1987, der einen Verwaltungsakt der ehemaligen DDR iS des Art 19 EinigVtr darstellt, ist bindend geblieben. Damit liegen die Voraussetzungen nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO grundsätzlich vor.

Der im Rahmen des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gewährte Vertrauensschutz wird jedoch in zwei Ausnahmefällen durchbrochen. § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO enthält eine Sonderregelung für den Fall, daß dem zuständigen Träger der Unfallversicherung der Unfall erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt wird und der Unfall nach RVO-Recht nicht zu entschädigen ist. Da die Beklagte zu 2) schon vor dem 1. Januar 1994 von dem Unfall Kenntnis hatte, sind die Voraussetzungen dieser Ausnahmeregelung hier nicht erfüllt. § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO bestimmt als weitere Ausnahme vom Grundsatz des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO, daß dessen Regelung nicht für Unfälle gilt, die mit Wirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 als Arbeitsunfälle nach dem FRG anerkannt worden sind, es sei denn, der Verletzte hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem 1. Januar 1992 in das Beitrittsgebiet verlegt. Durch § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO wird somit bestimmt, für welche Versicherungsfälle das Dritte Buch der RVO und für welche Versicherungsfälle das FRG anzuwenden ist (vgl BT-Drucks 12/405 S 154/155).

Bis zum Inkrafttreten des RÜG am 1. Januar 1992 war gemäß Art 24 § 1 Abs 2 Satz 1 des Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. Juni 1990 (BGBl II 518) das für Übersiedler aus der DDR seit Jahrzehnten geltende Fremdrentenrecht auf bis zum 18. Mai 1990 im Zuständigkeitsbereich eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung im Gebiet der DDR eingetretene Arbeitsunfälle weiterhin anzuwenden, wenn der Verletzte zu diesem Datum seinen gewöhnlichen Aufenthalt im (Alt-)Bundesgebiet hatte; für Übersiedler, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt erst nach diesem Zeitpunkt in das Gebiet der Bundesrepublik (Gebietsstand vor dem 3. Oktober 1990) verlegten, galt das Fremdrentenrecht nicht mehr. Da sich die Unfälle des Klägers nach den gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG bereits in den Jahren 1982 und 1984 ereignet hatten und dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im November 1989 im (Alt-)Bundesgebiet genommen und bis zum Stichtag 18. Mai 1990 beibehalten hatte, konnten für ihn die Vorschriften des FRG grundsätzlich angewendet werden.

Allerdings waren beim Kläger die beiden in der DDR erlittenen Unfälle vor dem in § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO maßgebenden Zeitpunkt des 1. Januar 1992 noch nicht formal anerkannt. Gleichwohl wird der Kläger von der Vorschrift erfaßt; denn auch ein zu diesem Stichtag laufendes Antragsverfahren nach dem FRG schließt Ansprüche nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO aus. Das RÜG brachte eine endgültige Feststellungssperre für FRG-Leistungen, indem es in § 1150 RVO die Konkurrenz von Fremdrentenansprüchen mit Ansprüchen nach dem Unfallversicherungsrecht der DDR neu regelte (BSGE 78, 265, 269 f = SozR 3-5050 § 5 Nr 2). Der Gesetzestext läßt zwar offen, ob nur in der Vergangenheit, also vor Inkrafttreten des RÜG am 1. Januar 1992 erfolgte Anerkennungen erfaßt sind oder auch spätere, in denen der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1992 liegt. Nach der Gesetzesbegründung zu § 1150 Abs 2 RVO (BT-Drucks 12/405 S 155) sollen auch die Fälle erfaßt werden, in denen das Anerkennungsverfahren zum Stichtag noch lief und später mit einem Bescheid mit Wirkung für die Zeit vor dem Stichtag abgeschlossen wurde. Dem hat sich die Rechtsprechung auch des Senats angeschlossen (BSGE 78, 265, 269 f = SozR 3-5050 § 5 Nr 2; BSG SozR 3-2200 § 1150 Nr 3; BSG Beschluß vom 21. Januar 1997 – 2 BU 267/96 – HVBG-Info 1997, 974). Maßgebend ist daher nicht der Entscheidungserfolg bereits vor dem Stichtag, sondern das rechtzeitige Ingangsetzen des Verfahrens (vgl Raschke in Schulin, HS-UV, § 72 RdNr 262). Andererseits kann ein nach dem 31. Dezember 1991 gestellter Antrag eines Übersiedlers aus der DDR nicht mehr zu einer Feststellung nach dem FRG und damit nicht zur Anwendung des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO führen.

Ob das Prinzip der gesellschaftlichen Eingliederung nach dem Fremdrentenrecht auch auf den Kläger anzuwenden ist, hängt somit davon ab, ob sein vor dem 1. Januar 1992 gestellter Antrag und die darauf folgenden Schreiben in dieser Angelegenheit ein fristgerechtes Eingliederungsbegehren darstellen und auch nach wie vor wirksam sind. Nach den bindenden Feststellungen des LSG iVm den in Bezug genommenen Gerichtsakten und Verwaltungsakten der Beklagten hat der Kläger vor dem 1. Januar 1992 bei den Beklagten unmittelbar keinen Antrag auf Leistungen nach dem FRG gestellt und damit kein entsprechendes Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt. Ein fristgerechter Antrag in diesem Sinne ist auch nicht im Wege des § 16 Abs 2 Satz 2 SGB I gestellt worden, wonach ein Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt gilt, in dem er bei einer der in § 16 Abs 2 Satz 1 SGB I genannten Stellen eingegangen ist, nämlich bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland. Auf das Eingliederungsbegehren nach dem FRG ist zwar § 16 Abs 2 Satz 2 SGB I anwendbar (BSGE 78, 265, 270 = SozR 3-5050 § 5 Nr 2; BSG SozR 3-2200 § 1150 Nr 3); ein solcher Antrag ist hier aber nicht bei einer der in § 16 Abs 2 Satz 1 SGB I genannten Stellen eingegangen.

Bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Antragstellung ist zu berücksichtigen, daß ein im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren gestellter Antrag eine einseitige, empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung darstellt, auf die – sofern das Sozialrecht keine speziellen Regelungen trifft – die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), insbesondere des § 133 BGB, Anwendung finden (BSG SozR 3-1200 § 16 Nr 2 mwN; Hauck/Klattenhoff, SGB I, § 16 RdNr 5; Jahn/Pierscianek, SGB I, § 16 RdNr 3; Grüner/Dalichau, SGB I, § 16 Anm I; Mrozynski, SGB I, 2. Aufl, § 16 RdNr 5). Maßgebend für die Auslegung eines Antrags ist daher der unter Berücksichtigung aller Umstände erkennbare wirkliche Wille des Antragstellers (BSGE 35, 220, 221 = SozR Nr 2 zu § 173a RVO; BSG SozR 3100 § 48 Nr 7). Ein Antrag umfaßt ohne Rücksicht auf seine Formulierung im allgemeinen das Begehren, alle Leistungen geltend zu machen, die dem Antragsteller zustehen (BSGE 49, 114, 116 = SozR 4100 § 100 Nr 5; BSG SozR 3100 § 48 Nr 7; BSGE 60, 43, 47 = SozR 4100 § 105 Nr 2).

Von diesen Grundsätzen ausgehend, hat der Kläger vor dem 1. Januar 1992 keinen Eingliederungsantrag nach dem Fremdrentenrecht gestellt. Dies ergibt die Auslegung seiner in dieser Sache vom LSG festgestellten Schreiben in Verbindung mit den damit zusammenhängenden Umständen. Zu dieser Auslegung ist der Senat auch befugt. Sie richtet sich nach den Grundsätzen, die allgemein für die Bindung des Revisionsgerichts an eine vom Tatsachengericht vorgenommene Auslegung einer privaten Willenserklärung gelten (vgl BSGE 43, 37, 39 = SozR 2200 § 1265 Nr 24; BSG SozR 1500 § 163 Nr 2). Dabei ist regelmäßig zwischen einem den tatsächlichen Inhalt der Erklärung feststellenden und einem sie rechtlich würdigenden Vorgang zu unterscheiden. Die – vom Revisionsgericht nachprüfbare – Würdigung der rechtlichen Bedeutung einer Willenserklärung setzt die – grundsätzlich bindende (§ 163 SGG) – tatrichterliche Feststellung voraus, was der Erklärende sprachlich (mündlich oder schriftlich) erklärt hat (Erklärungswortlaut) und was er mit seiner Erklärung wirklich gewollt hat (Erklärungsinhalt). Dabei sind alle – auch die außerhalb der sprachlichen Erklärung liegenden – Umstände zu berücksichtigen, sofern sie gegenüber dem Empfänger der Erklärung in irgendeiner Weise Ausdruck gefunden haben (BSG SozR 5070 § 10a Nr 3; BSG SozR 3-1500 § 73 Nr 2). Hat jedoch das Tatsachengericht die von ihm selbst festgestellten tatsächlichen Umstände nicht vollständig verwertet, hat das Revisionsgericht sie in die Rechtsanwendung einzubeziehen (BSGE 75, 92, 96 = BSG SozR 3-4100 § 141b Nr 10).

So verhält es sich hier. Das LSG hat zwar unter ausdrücklichem Bezug auf die von der Stadtverwaltung C. übersandten Unterlagen einschließlich der vom Kläger an die Stadt O. und an den Landrat des damaligen Landkreises H. gerichteten Schreiben im wesentlichen alle für die Ermittlung des wirklichen Willens des Klägers benötigten Tatsachen festgestellt. Es hat jedoch diese Feststellungen nur insoweit verwertet, als es aus ihnen geschlossen hat, der Kläger habe seinen Anspruch auf Weiterzahlung der Rente geltend gemacht. Diese Wertung spricht aber eher dafür, daß es dem Kläger allein um die Zahlung der Rente aus dem in der DDR erworbenen Rentenanspruch ging. Jedenfalls ergibt sich daraus nicht iS einer nach § 163 SGG bindenden Feststellung, daß der Kläger einen Eingliederungsantrag nach dem FRG habe stellen wollen.

Gegen eine solche Annahme spricht bereits der Wortsinn der Schreiben. In ihnen wird entweder die Zahlung und Rückzahlung der Unfallrente verlangt, die dem Kläger „durch das Regime der SED-FDGB enteignet worden ist,” oder um Überprüfung gebeten, „wo die Gelder geblieben sind”. Dem kann nicht entnommen werden, daß über das Geforderte hinaus noch ein Antrag auf Feststellung einer Verletztenrente nach dem FRG gemeint war. Entgegen diesem Wortsinn kann der den Schreiben zu entnehmende wirkliche Wille des Klägers auch nicht iS der oben genannten Rechtsprechung dahingehend ausgelegt werden, daß etwa alle in Zusammenhang mit seinen in der DDR erlittenen Arbeitsunfällen stehenden Leistungen beantragt werden sollten. Denn auch aus der laienhaften Sicht des Klägers konnten keine Zweifel daran bestehen, daß Renten aus dem DDR-Rentenanspruch und einem FRG-Rentenanspruch nicht nebeneinander gewährt werden konnten, diese Ansprüche also nur alternativ zu verwirklichen waren, und daß insofern ein gleichzeitiges Beantragen beider Renten nicht – wie bei kumulativ gewährten Leistungen – in jedem Falle günstig für ihn war. Im Gegenteil konnte ihm – auch schon aus damaliger Sicht – die Weiterzahlung der nach dem DDR-Recht festgestellten Rente eher realisierbar erscheinen als eine FRG-Rente, deren Voraussetzungen noch festgestellt werden mußten. Denn trotz der Einstellung der Rentenzahlung durch die damaligen DDR-Behörden lag es wegen der in Art 19 EinigVtr getroffenen Regelung nahe, daß er diese Rente wieder erhalten konnte, sei es, daß ein bindender Bescheid der Verwaltung der damaligen DDR über die Einstellung nicht vorlag, sei es, daß mit der Wiedervereinigung Deutschlands die Gründe, derentwegen die Rentenzahlung eingestellt worden war (Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, Verlassen des DDR-Staatsgebietes) nicht mehr relevant waren. Demgegenüber war angesichts des in der damaligen DDR festgestellten Gesamtkörperschadens von (nur) 20 vH fraglich, ob bei ihm auch nach bundesdeutschem Recht eine MdE um wenigstens 20 vH vorlag und ob ihm somit überhaupt ein Rentenanspruch nach dem FRG zustand.

Als weiterer Gesichtspunkt, daß es dem Kläger ausschließlich um die Wiedererlangung und Nachzahlung der DDR-Rente ging, ist der Umstand zu sehen, daß er sich mit seinem Antrag im November 1990 an die Verwaltung einer im Beitrittsgebiet liegenden Stadt wandte, für die gemäß Anlage I Kap VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 1 Buchst a EinigVtr ua hinsichtlich der Unfallversicherung § 16 SGB I neben weiteren Vorschriften des SGB I erst ab 1. Januar 1991 anzuwenden war. Dies und der Umstand, daß er in seinem Schreiben vom November 1990 in erster Linie vermögensrechtliche Ansprüche in Zusammenhang mit einem Grundstück geltend machte, sprechen dagegen, daß er damit auch eine Rente nach dem FRG beantragen wollte. Da die bei Behörden im Beitrittsgebiet im Jahre 1991 eingegangenen Schreiben des Klägers lediglich Wiederholungen seines ursprünglichen Antrags von November 1990, Kopien desselben oder Erinnerungen beinhalten, kann aus ihnen nichts anderes als aus dem ursprünglichen Antrag geschlossen werden. Das Schreiben des Klägers an den „FDGB-Kreisvorstand – Verwaltung der Sozialversicherung – H.” vom 27. Dezember 1991 kann schon deshalb seinen Anspruch nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO nicht beeinträchtigt haben, weil dieses Schreiben erst am 24. Januar 1992 und damit nach dem in § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 2 RVO festgesetzten Zeitpunkt beim Empfänger eingegangen ist.

Da der Unfall des Klägers mithin ab dem Inkrafttreten des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO am 1. Januar 1992 als Arbeitsunfall iS des Dritten Buches der RVO gilt, ist ihm ab Januar 1992 Verletztenrente gemäß § 581 Abs 1 Nr 2 RVO nach einer MdE um 20 vH zu gewähren. Nach § 1154 Abs 1 Satz 1 RVO gilt der Körperschaden, welcher der Rente im Beitrittsgebiet zugrunde gelegt wurde, als MdE iS von § 581 Abs 1 Nr 2 RVO.

Die Beklagte ist nach § 1159 RVO der zur Leistungsgewährung zuständige Unfallversicherungsträger. Dies ergibt sich aus dem Verteilungsschlüssel des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften, der nach Anlage I Kap VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 EinigVtr zu erstellen war (abgedruckt in BG 1992, S 325 ff). Der Kläger ist am 14. November 1949 geboren, und die Beklagte zu 2) ist nach diesem Verteilungsschlüssel zur Übernahme der Geburtstage vom 30. Oktober bis zum 28. November zuständig (aaO S 327).

Somit waren die Urteile der Vorinstanzen und der Bescheid der Beklagten zu 1) im angefochtenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu 2) entsprechend dem Revisionsbegehren mit Wirkung vom 1. Januar 1992 zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 651128

SozR 3-2200 § 1150, Nr. 5

SozSi 2002, 326

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge