Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung der Klageschrift bei Adressierung an das unzuständige Gericht

 

Leitsatz (NV)

1. Hat der Kläger die Klage an ein örtlich unzuständiges Gericht adressiert, so ist bei eindeutiger Bezeichnung des angerufenen Gerichts eine Auslegung i. S. einer Anrufung des zuständigen Gerichts nicht möglich und widerspräche dem schutzwürdigen Interesse des Klägers.

2. Bis zu einer verfahrensordnungsgemäßen Verweisung durch Beschluß (§ 70 Abs. 1 FGO) bleibt das angerufene Gericht zuständig. Eine Klage bei dem zuständigen Gericht ist solange unzulässig (§ 66 Abs. 2 FGO).

 

Normenkette

FGO §§ 66, 70

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) und seine Ehefrau erwarben durch notariellen Vertrag vom 23. Dezember 1977 jeweils zur Hälfte mehrere in der Gemarkung X belegene, teilweise bebaute Grundstücke samt Inventar und sonstigem Mobiliar und beantragten für den Erwerb Grunderwerbsteuerbefreiung.

Das beklagte Finanzamt (FA) lehnte die beantragte Grunderwerbsteuerbefreiung ab und erhob mit Bescheid vom 7. Januar 1981 aus dem Erwerb der Miteigentumsanteile Grunderwerbsteuer in Höhe von . . . DM. Den Einspruch des Klägers wies das FA als unbegründet zurück.

Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 1981 erhob der damalige Prozeßbevollmächtigte des Klägers Klage beim Finanzgericht (FG) A, die dort am 26. Oktober 1981 eingegangen ist und unter dem Aktenzeichen . . . registriert ist. Auf einen Hinweis des Gerichts bat der damalige Prozeßbevollmächtigte, die Klage an die Adresse des FG B ,,weiterzuleiten". Mit Schreiben vom 5. November 1981 übersandte das FG A der Vorinstanz ,,zuständigkeitshalber die versehentlich an das hiesige Gericht adressierte Klage". Anschreiben und Anlage sind bei der Vorinstanz am 6. November 1981 eingegangen.

Am 12. November 1981 ging bei der Vorinstanz ein als Klage bezeichnetes Schreiben vom 10. November 1981 ein, das vom Kläger und seiner Ehefrau unterschrieben war und dem als Anlage Fotokopien der Klageschrift vom 23. Oktober 1981 beigefügt waren. Der Kläger und seine Ehefrau beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; sie hätten festgestellt, daß ihr Steuerberater die Klage fälschlicherweise an das FG A adressiert habe, weshalb die ,,Einspruchsfrist" nicht gewahrt sei.

Das FG wies die Klage als unbegründet ab. Zur Zulässigkeit der Klage vertrat es die Auffassung, die Klage, die beim zuständigen Gericht am 6. November 1981 eingegangen sei, sei nicht unzulässig, da die am 26. Oktober 1981 beim FG A eingegangene Klage innerhalb der Klagefrist erhoben worden sei. Daß eine Verweisung an das zuständige Gericht erst nach Fristablauf erfolge oder beantragt werde, sei unerheblich. Dies müsse entsprechend für den Fall gelten, daß, wie im Streitfall, keine förmliche Verweisung im Sinne des § 70 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erfolgt sei, sondern lediglich die Klage formlos an das zuständige Gericht abgegeben worden sei.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes Nr. 880 über Grunderwerbsteuerbefreiung für Maßnahmen der Verbesserung der Wirtschaftsstruktur.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft und zulässig (§ 115 Abs. 1 FGO). Die Revision kann zur sachlichen Nachprüfung des FG-Urteils jedoch nicht führen, denn das FG hat die Klage rechtsirrtümlich für zulässig angesehen, obwohl der Zulässigkeit die Rechtshängigkeit einer Klage in derselben Sache entgegenstand (§ 66 Abs. 2 FGO). Die Zulässigkeit der Klage gehört zu den Sachurteilsvoraussetzungen, die, weil sie sich auf die Zulässigkeit des Gesamtverfahrens beziehen, in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen sind (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9; vom 22. Oktober 1975 I R 214/73, BFHE 117, 139, BStBl II 1976, 76; vom 7. Dezember 1977 II R 96/75, BFHE 123, 437, BStBl II 1978, 70; vom 27. Juli 1977 I R 207/75, BFHE 123, 286, BStBl II 1978, 11). Dabei kann die Revisionsinstanz auch Tatsachen berücksichtigen, die im Tatbestand des finanzgerichtlichen Urteils zwar nicht erwähnt sind, die sich aber aus den FG-Akten ergeben (BFHE 123, 437).

Zu Unrecht hat die Vorinstanz die beim FG A erhobene und dort am 26. Oktober 1981 eingegangene Klage, die das FG A formlos am 6. November 1981 an das entscheidende Gericht übermittelt hat, als bei ihm erhobene Klage angesehen.

Mit Erhebung der am 26. Oktober 1981 beim FG A eingegangenen Klage gegen den Grunderwerbsteuerbescheid vom 7. Januar 1981 und die Einspruchsentscheidung vom 23. September 1981 wurde die Streitsache beim dortigen FG rechtshängig (§ 66 Abs. 1 FGO). Unerheblich ist insoweit, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers ,,versehentlich" beim unzuständigen FG Klage erhoben hat. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers versehentlich das FG A für zuständig gehalten hat oder lediglich - etwa durch ein Büroversehen - die Klage an das örtlich unzuständige FG adressiert wurde. Im ersteren Fall war eine Klage an das örtlich unzuständige Gericht gewollt; in letzterem Fall ergäbe sich nichts anderes. Prozeßhandlungen können zwar wie Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts ausgelegt werden, wobei die zum bürgerlichen Recht entwickelten Rechtsgrundsätze sinngemäß anzuwenden sind (BFH-Urteil vom 6. Februar 1979 VII R 82/78, BFHE 127, 135, BStBl II 1979, 374; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 65 FGO Anm. 1). Grundsätzlich kann auch die Bezeichnung des Erklärungsempfängers auslegungsbedürftig sein. Voraussetzung ist jedoch, daß die Bezeichnung des Gerichts überhaupt auslegungsfähig ist. Dies ist bei eindeutiger Bezeichnung des angerufenen Gerichts jedoch nicht der Fall und würde auch dem erkennbaren schutzwürdigen Interesse des Klägers widersprechen; denn für die Rechtzeitigkeit der Klage ist u. a. entscheidend, wann die Klage rechtshängig wurde, und in § 70 FGO ist gerade diesem Interesse bei Klageerhebung beim örtlich oder sachlich unzuständigen Gericht Rechnung getragen, mit der Möglichkeit, die Verweisung der rechtshängigen Streitsache an das zuständige Gericht zu beantragen. Ein Erklärungsmangel wie etwa ein Irrtum über den Inhalt der abgegebenen Erklärung ist bei Prozeßhandlungen jedoch unbeachtlich (Thomas / Putzo, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 13. Aufl., Einleitung III 4b; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl., § 65 Anm. V 3). Die formlose Abgabe der Klage an die örtlich zuständige Vorinstanz war nicht geeignet, die Rechtshängigkeit beim angerufenen FG A zu beenden und auf die Vorinstanz zu übertragen. Gemäß § 70 Abs. 1 FGO ist, wenn sich ein Gericht für sachlich oder örtlich unzuständig hält, die Streitsache an das zuständige Gericht durch Beschluß zu verweisen. Durch eine formlose Weiterleitung der Klageschrift blieb daher die Rechtshängigkeit der Streitsache beim FG A unberührt. Erst mit Schreiben vom 10. November 1981, eingegangen bei der Vorinstanz am 12. November 1981, hat der Kläger bei der Vorinstanz Klage erhoben, gleichzeitig mit dem Antrag, Wiedereinsetzung zu gewähren, da sein Steuerberater fälschlicherweise Klage beim FG A erhoben habe. Diese Klage ist jedoch gemäß § 66 Abs. 2 FGO unzulässig, solange dieselbe Streitsache beim FG A rechtshängig ist.

Der erkennende Senat verweist die Sache nach Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Dadurch wird der Weg frei, das Prozeßhindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit (§ 66 Abs. 2 FGO) durch Nachholung des Verweisungsbeschlusses seitens des FG A (§ 70 Abs. 1 FGO) zu beseitigen, falls es nicht bereits durch Rücknahme der dort erhobenen Klage beseitigt worden sein sollte. Im letzteren Falle wird das FG noch über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden haben, da § 70 Abs. 2 Satz 3 FGO in diesem Falle nicht gilt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414458

BFH/NV 1987, 517

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