Entscheidungsstichwort (Thema)

Rüge von Verfahrensfehlern

 

Leitsatz (NV)

1. Die Unwirksamkeit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wird nicht schlüssig gerügt, wenn der Beteiligte Kenntnis vom anberaumten Termin erhalten hat.

2. Ein nicht ordnungsgemäßer Aufruf der Sache ist kein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens.

3. Wird geltend gemacht, das FG habe in den Entscheidungsgründen ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen, so kann dies einen Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nur dann begründen, wenn das Angriffs- oder Verteidigungsmittel den Klageanspruch betrifft.

4. Eine zugleich mit der Nichtzulassungsbeschwerde eingelegte unzulässige Revision wird nicht dadurch statthaft, daß die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg hat.

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 1 Nrn. 3-6, § 92 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Eheleute, erhoben nach erfolglosem Rechtsbehelfsverfahren Klage gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1986 (Streitjahr). Sie machten geltend, der Bescheid sei nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben worden und daher aufzuheben. Außerdem beriefen sie sich zunächst darauf, die Höhe des Grundfreibetrages sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ausreichend. Entsprechend einem gemeinsamen Antrag der Verfahrensbeteiligten ordnete das Finanzgericht (FG) durch Beschluß vom 13. November 1991 das Ruhen des Verfahrens an. Im Laufe des weiteren Verfahrens beantragten die Kläger ferner, einen höheren Kinderfreibetrag als 2 484 DM sowie einen höheren Ausbildungsfreibetrag als 1 800 DM steuermindernd zu berücksichtigen.

Unter dem Datum des 23. Juni 1993 erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) einen Änderungsbescheid, durch den die Einkommensteuer hinsichtlich einzelner Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgesetzt wurde (§ 165 Abs. 1 der Abgabenordnung -- AO 1977 --). Gegen diesen Änderungsbescheid legten die Kläger Einspruch ein. Einen Antrag nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stellten sie nicht.

Das FG hob am 28. Juli 1993 seinen Beschluß vom 13. November 1991 auf, mit dem es das Ruhen des Verfahrens angeordnet hatte und setzte das Verfahren fort. Es wies durch Gerichtsbescheid vom selben Tage die Klage ab. Nach Ansicht des Gerichts war die Klage unzulässig geworden, weil die Kläger gegen den Änderungsbescheid Einspruch eingelegt und keinen Antrag nach § 68 FGO gestellt hätten. Die Kläger beantragten mündliche Verhandlung. In der Postzustellungsurkunde, mit der die Ladung zum Termin des FG zugestellt wurde, ist als Geschäftsnummer das Aktenzeichen des finanzgerichtlichen Verfahrens angegeben.

Im Termin vom 10. Januar 1994, in dem für die Kläger zunächst niemand erschienen war, schloß das Gericht die mündliche Verhandlung und zog sich zur Beratung zurück. Auf eine entsprechende Bitte des inzwischen eingetroffenen Klägervertreters trat es erneut in die mündliche Verhandlung ein. Einen Antrag nach § 68 FGO, den Änderungsbescheid vom 23. Juni 1993 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, stellte der Prozeßbevollmächtigte nicht. Nachdem sich das Gericht wiederum zur Beratung zurückgezogen hatte, beantragte der Klägervertreter nochmals, die Verhandlung zu eröffnen. Das Gericht lehnte dies ab und verkündete ein klageabweisendes Urteil. Es ließ die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) nicht zu.

Gegen das Urteil richtet sich die Revision der Kläger, mit der diese eine Verletzung der §§ 90, 91 und 119 Nr. 4 bis 6 FGO sowie der Art. 19 Abs. 4 und 103 des Grundgesetzes (GG) geltend machen. Zugleich haben sie gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde eingelegt, der der Senat mit Beschluß vom 19. Mai 1995 stattgegeben hat.

Zur Begründung der Revision tragen sie vor:

1. Sie, die Kläger, seien in der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO). Sie hätten sich nicht ausreichend auf den anberaumten Termin vorbereiten können, weil das FG die Ladungsfrist von zwei Wochen (§ 91 Abs. 1 FGO) nicht eingehalten habe. Die Ladung sei mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Die Zustellung sei unwirksam gewesen, weil auf der Zustellungsurkunde und auf dem Briefumschlag, in dem die Ladung versandt worden sei, lediglich das Aktenzeichen des finanzgerichtlichen Verfahrens als Geschäftsnummer vermerkt gewesen sei. Dies sei jedoch nicht ausreichend. Die Ladungsfrist sei demnach nicht in Lauf gesetzt worden. Sie hätten sich nicht ausreichend auf den Termin vorbereiten können.

2. Außerdem habe das FG die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt (§ 116 Abs. 1 Nr. 4 FGO). Das FG habe nach dem Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung und vor der Urteilsverkündung weder im Sitzungssaal noch im Vorraum die Sache aufgerufen. Lediglich im Sitzungssaal sei der Beginn der mündlichen Verhandlung vom Senatsvorsitzenden angesprochen worden. Die Öffentlichkeit sei nur gewährleistet, wenn sich jeder Interessierte rechtzeitig Kenntnis von Ort und Zeit der Verhandlung verschaffen könne.

3. Darüber hinaus sei das angefochtene Urteil zum Teil nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO). Das FG habe selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen. Es habe keine Ausführungen zum faktischen Ausschluß der Öffentlichkeit und zur fehlenden Vertretung eines Beteiligten gemacht. Auch habe es nicht erwähnt, daß der Klägervertreter das Unterlassen des Aufrufs der Sache gerügt habe.

4. "Vorsorglich" rügen die Kläger die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Senats bei der Entscheidung über die Revision. Der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan entspreche nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen. Der Senatsvorsitzende bestimme selbst den Berichterstatter; außerdem sei es ihm wegen der gesetzlich nicht gedeckten Überbesetzung des Senats möglich, durch entsprechende Terminierung eine weitere Gerichtsperson festzulegen.

5. Wegen der fehlerhaften Sachbehandlung durch das FG dürften gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes (GKG) keine Verfahrenskosten erhoben werden.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FG beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Zusammensetzung des erkennenden Senats entspricht den Anforderungen an den gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Die Behauptung der Kläger, der Senat sei überbesetzt, ist unzutreffend. Dem erkennenden Senat gehören lediglich fünf Mitglieder an (vgl. den Geschäftsverteilungsplan des BFH in BStBl II 1995, 157ff.).

Auch im übrigen sind die Bedenken der Kläger hinsichtlich der Zusammensetzung des Senats unbegründet. Durch den senatsinternen Geschäftsverteilungsplan vom 15. Dezember 1994 ist nach abstrakten Merkmalen die Mitwirkung des Berichterstatters und des Mitberichterstatters in Streitsachen festgelegt, in denen -- wie im Streitfall -- ein Beschluß außerhalb der mündlichen Verhandlung ergeht. Nach den Grundsätzen dieses Geschäftsverteilungsplans bestimmt sich die Mitwirkung der an der Entscheidung über die vorliegende Revision beteiligten Richter (zu den senatsinternen Mitwirkungsgrundsätzen bei überbesetzten Spruchkörpern vgl. den Beschluß der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 5. Mai 1994 VGS 1--4/93, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1994, 491).

Die Revision ist unzulässig.

Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der BFH sie zugelassen hat. Ohne Zulassung durch das FG oder den BFH ist die Revision nur dann zulässig, wenn wesentliche Mängel des Verfahrens i. S. von § 116 Abs. 1 FGO gerügt werden. Ein solcher wesentlicher Verfahrensmangel ist nur dann schlüssig gerügt, wenn die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen -- ihre Richtigkeit unterstellt -- einen der in § 116 Abs. 1 FGO genannten Mängel ergeben (BFH-Beschluß vom 21. April 1986 IV R 190/85, BFHE 146, 357, BStBl II 1986, 568). Der Vortrag der Kläger ergibt nicht schlüssig einen solchen Verfahrensmangel.

1. Die Rüge der Kläger, die Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung sei unwirksam gewesen, ist nicht geeignet, einen Fall mangelnder Vertretung i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO schlüssig darzutun. Der Senat braucht auf die Ordnungsmäßigkeit der Ladung nicht einzugehen. Ein die zulassungsfreie Revision rechtfertigender Verfahrensmangel liegt nur bei besonders schweren Verstößen vor, insbesondere dann, wenn ein Beteiligter im Prozeß überhaupt nicht vertreten ist (BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 1979 VI R 3/79, BFHE 128, 176, BStBl II 1979, 654; vom 15. Dezember 1986 IV B 59--61/86, IV B 66/86, BFH/NV 1988, 643). Ein schwerer Verfahrensverstoß wird jedoch nicht schlüssig gerügt, wenn der Beteiligte trotz fehlerhafter Ladung Kenntnis vom anberaumten Termin erhalten hat (BFH-Beschluß in BFHE 128, 176, BStBl II 1979, 654). Im Streitfall kannte der Klägervertreter den Termin und ist zu diesem erschienen.

Soweit die Kläger vortragen, sie hätten sich wegen des Zustellungsmangels nicht ausreichend auf den Termin vorbereiten können, rügen sie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Ein solcher Verfahrensmangel kann nicht mit der zulassungsfreien Revision nach § 116 Abs. 1 FGO geltend gemacht werden.

2. Auch mit der Behauptung, der Senatsvorsitzende habe lediglich den Beginn der mündlichen Verhandlung im Sitzungssaal angesprochen und die Sache nach dem Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung nicht gemäß § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, haben die Kläger keinen Mangel i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 4 FGO schlüssig gerügt. Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob im Streitfall ein Verstoß gegen § 92 Abs. 2 FGO vorlag. Denn ein nicht ausreichender oder unterbliebener Aufruf der Sache kann allenfalls als Verletzung des rechtlichen Gehörs anzusehen sein (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 5. Oktober 1976 2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364), die mit der zulassungsfreien Revision nach § 116 Abs. 1 FGO nicht geltend gemacht werden kann. Ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens ist hingegen nicht gegeben. Es ist nicht erforderlich, daß jedermann weiß, wann und wo eine mündliche Verhandlung in welcher Sache stattfindet (BFH-Urteil vom 15. März 1977 VII R 122/73, BFHE 121, 392, BStBl II 1977, 431).

3. Die Rüge der Kläger, das angefochtene Urteil sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO), genügt ebensowenig den Anforderungen. Ein derartiger Verfahrensmangel liegt nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen, weil das FG sie überhaupt nicht begründet hat oder weil es ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (Senatsbeschluß vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638; Beschluß des BFH vom 8. September 1994 VII R 15/94, BFH/NV 1995, 241). Ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel ist gegeben, wenn es den gesamten Tatbestand einer mit eigenständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bildet (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 119 Anm. 25). Es muß die Begründung des Klageanspruchs betreffen (BFH-Beschluß vom 13. Juli 1994 X R 86, 115/93, BFH/NV 1994, 729; Gräber/Ruban, a. a. O.). Außerdem muß es in der mündlichen Verhandlung vor dem FG geltend gemacht worden sein (Senatsbeschluß in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638).

Nach diesen Grundsätzen hat das FG im Streitfall nicht ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen. Die von den Klägern gerügten angeblichen Verfahrensverstöße beziehen sich nicht auf den Klageanspruch selbst, sondern nur auf das vom Gericht zu beachtende Verfahren (Senatsbeschluß vom 12. April 1994 III R 44/93, BFH/NV 1994, 885). Die behaupteten Verfahrensmängel können daher nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde (Verletzung des Rechts auf Gehör durch unterbliebenen Aufruf der Sache) und mit der Rüge nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO (Mangel der Vertretung) geltend gemacht werden.

4. Der Erfolg der gleichzeitig von den Klägern eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde hat auf die Zulässigkeit des hier zu beurteilenden Rechtsmittels keinen Einfluß. Eine zugleich mit der Nichtzulassungsbeschwerde eingelegte unzulässige Revision wird nicht dadurch statthaft, daß die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg hat (Senatsbeschluß in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638; Beschlüsse des BFH vom 25. März 1993 V R 100/92, BFH/NV 1994, 178, und vom 10. März 1994 IX R 43/90, BFH/NV 1994, 813).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420838

BFH/NV 1996, 151

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