Entscheidungsstichwort (Thema)

Bemessungsgrundlage für gesetzliche Verzugszinsen

 

Leitsatz (amtlich)

I. Für eine Minderung des Zinsanspruchs eines Arbeitnehmers auf einen im Entscheidungsausspruch nicht bezifferten sog. Nettobetrag gibt es keine Rechtsgrundlage.

Mit der Einbehaltung und Abführung der vom Arbeitnehmer zu zahlenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge erlischt insoweit der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers. Das Erlöschen wird nicht durch eine Aufrechnungserklärung des Arbeitgebers, sondern durch Erfüllung bewirkt.

Für die Entscheidung über den Zinsanspruch nach § 288 Abs. 1 BGB ist zwischen den im Erkenntnisverfahren maßgeblichen Merkmalen und den Voraussetzungen zu unterscheiden, die ggf. im Vollstreckungsverfahren zu beachten sind.

II. Deswegen legt der Neunte Senat dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts die Rechtsfrage zur Entscheidung vor:

Stehen dem Arbeitnehmer als Gläubiger einer Entgeltforderung gegen den Arbeitgeber die gesetzlichen Verzugszinsen im Sinne von § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB aus diesem Betrag oder aus dem Betrag zu, der um die vom Arbeitgeber einzubehaltenden und abzuführenden Steuern und Beiträge gemindert ist?

 

Normenkette

BGB § 284 Abs. 1, § 288 Abs. 1 S. 1, §§ 362, 388-389; EStG § 38 Abs. 1, § 41a Abs. 1; SGB IV § 28g

 

Verfahrensgang

LAG Nürnberg (Urteil vom 22.03.1994; Aktenzeichen 6 Sa 371/90)

ArbG Nürnberg (Teilurteil vom 22.02.1990; Aktenzeichen 4 Ca 6396/89)

 

Tenor

Dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts wird nach § 45 Abs. 2 ArbGG folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:

Stehen dem Arbeitnehmer als Gläubiger einer Entgeltforderung gegen den Arbeitgeber die gesetzlichen Verzugszinsen im Sinne von § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB aus diesem Betrag oder aus dem Betrag zu, der um die vom Arbeitgeber einzubehaltenden und abzuführenden Steuern und Beiträge gemindert ist?

 

Gründe

I. Der Kläger war vom 1. Oktober 1987 bis zum 31. Dezember 1989 bei der Beklagten als Reisevertreter angestellt. Anfang Oktober 1989 forderte er die Beklagte schriftlich auf, bis zum 15. Oktober 1989 restliche Provisionen und eine Sonderzuwendung für 1988 zu zahlen. Seine auf Zahlung von 45.095,92 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 16. Oktober 1989 gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 4.586,72 DM brutto, 11.841,98 DM brutto und 5.538,43 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich jeweils ergebenden Nettobetrag seit 16. Oktober 1989 zu zahlen und im übrigen die Klage abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen.

Auf die Beschwerde des Klägers hat der Neunte Senat durch Beschluß vom 6. Dezember 1994 (– 9 AZN 337/94 –) die Revision zugelassen, soweit das Landesarbeitsgericht den weitergehenden, nach dem Bruttobetrag bemessenen Zinsanspruch abgewiesen hat.

Der Kläger beantragt nunmehr, die Beklagte zur Zinszahlung auf den vollen Entgeltbetrag zu verurteilen.

II. Der Neunte Senat möchte der Revision des Klägers stattgeben. Er sieht sich daran durch die Rechtsprechung des Zweiten und des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts gehindert.

1. Der Senat ist der Auffassung, daß der Kläger die gesetzlichen Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB aus dem zuerkannten Entgeltanspruch, der Hauptforderung, beanspruchen kann. Für eine Minderung des Zinsanspruchs eines Gläubigers auf einen im Entscheidungsausspruch nicht bezifferten sog. Nettobetrag besteht keine Rechtsgrundlage (ebenso LAG München 31. Mai 1989 – 5 Sa 234/88 – NZA 1990, 66; LAG Hamburg 11. April 1991 – 1 Sa 25/90 – LAGE BGB § 288 Nr. 1; LAG Nürnberg 23. Juni 1994 – 8 (5) Sa 200/93 – LAGE BGB § 288 Nr. 2 = BB 1995, 206; LAG Schleswig-Holstein 21. November 1995 – 1 Sa 574/95 – LAGE BGB § 288 Nr. 3 = AiB 1996, 505; LAG Köln 12. Oktober 1992 – 11 Sa 597/92 – LAGE ArbGG 1979 § 11 Nr. 9; LAG Köln 1. August 1996 – 10 Sa 13/96 –, nv.; im Schrifttum zB GK-ArbGG/Dörner, § 46 Rn. 44; Hauck, ArbGG, § 46 Rn. 23; Lepke, AR-Blattei SD Zinsen, Rn. 25 ff.; MünchKomm-BGB/Thode, 3. Aufl., § 288 Rn. 4; Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 288 BGB Rn. 1; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 8. Aufl., § 71 I 4 c; Soergel/Wiedemann, BGB, 12. Aufl., § 288 Rn. 12; Staudinger/Löwisch, BGB, 12. Aufl. § 288 Rn. 4; Gruss, BB 1998, 2167; aA zB Germelmann in Germelmann/Matthes/ Prütting, ArbGG, 3. Aufl., § 46 Rn. 44 mit insoweit unzutreffender Verweisung auf Lepke; Ide, DB 1968, 803; Jauernig/Vollkommer, BGB, 7. Aufl., § 291 Anm. 3; Kania, Nichtarbeitsrechtliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, S 83 f.; Weber Anm. BAG 11. August 1998 – 9 AZR 122/95 (A) – AP BGB § 288 Nr. 1).

2. Der Senat hat bereits mit Beschluß vom 11. August 1998 seine Rechtsauffassung dargelegt. Er ist davon ausgegangen, damit von der Rechtsprechung des Vierten Senats (BAG 20. April 1983 – 4 AZR 497/80 – BAGE 42, 244, 255 – AP TVAL II § 21 Nr. 2; vom 13. Februar 1985 – 4 AZR 295/83 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Presse Nr. 3) sowie des Zweiten, Fünften und Zehnten Senats (19. September 1991 – 2 AZR 619/90 –; 29. Mai 1991 – 5 AZR 288/90 –; 2. Dezember 1992 –10 AZR 261/91 –) abzuweichen. Der Senat hat deshalb nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG bei diesen Senaten angefragt, ob sie an ihrer Rechtsprechung festhalten. Das haben der Zehnte und der Fünfte Senat verneint. Sie haben sich der Auffassung des Neunten Senats angeschlossen (BAG 9. Dezember 1998 – 10 AS 42/98 – und 16. Juni 1999 – 5 AS 41/98 –).

Der Vierte Senat hat am 5. Mai 1999 (– 4 AS 40/98 –) beschlossen:

„Der Vierte Senat ist der Auffassung, daß seine Rechtsprechung der Rechtsauffassung des Neunten Senats nicht entgegensteht.”

Er hat ausgeführt, die vom Neunten Senat angenommene Abweichung liege nicht vor. Der Senat habe bereits in seiner Entscheidung vom 13. Februar 1985 (– 4 AZR 295/83 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Presse Nr. 3) seine Auffassung aus dem Urteil vom 20. April 1983 (– 4 AZR 497/80 – AP TVAL II § 21 Nr. 2) „der Sache nach” aufgegeben. Zur Begründung hat er angegeben, er vertrete nunmehr „eine am Vollstreckungsrecht orientierte differenzierende Lösung”. Wenn der Arbeitgeber dem Gerichtsvollzieher die Abführung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen belege, sei nur der Nettobetrag zu verzinsen. Falls die Abführung der Steuern und Beiträge nicht belegt werden könne, sei der Bruttobetrag zu vollstrecken und zu verzinsen.

Der Zweite Senat hat am 17. Juni 1999 (– 2 AS 39/98 –) beschlossen:

„Der Zweite Senat hält an seiner Rechtsprechung zur Verzinsung von Bruttobeträgen fest.”

Er hat dazu ausgeführt, er habe sich im Urteil vom 19. September 1991 (– 2 AZR 619/90 –) der vom Vierten Senat im Urteil vom 13. Februar 1985 (aaO) vertretenen Auffassung angeschlossen, einem Arbeitnehmer stünden keine Ansprüche auf Zinsen aus den die Nettovergütung übersteigenden Bruttobeträgen zu. Daran halte er aus folgenden Erwägungen fest:

„… durch die Lohnzahlungssäumnis des Arbeitgebers (wird) nur der Nettobetrag vorenthalten. Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des § 288 BGB kann ein Zinsanspruch aber nur an einen solchen Geldbetrag anknüpfen, der durch Vollstreckung dem Gläubiger auch tatsächlich zufließen kann (BAG 20. April 1983, aaO)”.

Die vom Zweiten und Vierten Senat beschlossenen Antworten machen eine Vorlage an den Großen Senat nicht entbehrlich. Die dort vertretenen Rechtsauffassungen stehen im Widerspruch zum Anfragebeschluß des Neunten Senats. Soweit der Vierte Senat in dem Entscheidungsausspruch seines Beschlusses vom 5. Mai 1999 eine Abweichung verneint, kann dem nicht gefolgt werden. Der Neunte Senat vertritt in der entscheidungserheblichen Rechtsfrage keine „am Vollstreckungsrecht orientierte differenzierende Lösung”. Er ist vielmehr der Auffassung, daß im Erkenntnisverfahren allein die bürgerlich-rechtliche Frage des Verzugs maßgeblich ist. Unerheblich ist, ob und inwieweit später Umstände entstehen, die eine Einstellung der Zwangsvollstreckung rechtfertigen können.

Auch unter Berücksichtigung der vom Zweiten Senat vorgebrachten neuen Argumente hält der Neunte Senat an seiner im Anfragebeschluß vertretenen Rechtsauffassung fest. Er legt deshalb die klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage nach § 45 Abs. 2 ArbGG dem Großen Senat zur Entscheidung vor.

III. Hierfür sind folgende Erwägungen ausschlaggebend:

1. In § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB ist bestimmt, daß jede Geldschuld während des Verzugs des Schuldners mit 4 vH für das Jahr zu verzinsen ist.

a) Geldschuld im Sinne dieser Vorschrift ist das aufgrund des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber zu zahlende gesamte Entgelt. Der bei Verzug des Schuldners entstehende Zinsanspruch ist ein gesetzlich bestimmter, pauschalierter Schadenersatzanspruch. Er ist akzessorisch zur geschuldeten Hauptschuld, dem Entgeltanspruch des Arbeitnehmers. Ist der Arbeitgeber mit der Zahlung des Arbeitsentgelts in Verzug, schuldet er dem Arbeitnehmer die Zinsen aus dem geschuldeten Entgelt, das üblicherweise Bruttoentgelt genannt wird (vgl. BAG 14. Januar 1964 – 3 AZR 55/63 – BAGE 15, 220, 227; 10. Juni 1980 – 1 AZR 822/79 – BAGE 33, 140, 146, 184; 29. Juli 1980 – 6 AZR 231/78 – BAGE 34, 80, 83, 85; 29. Juli 1980 – 6 AZR 1098/78 – AP BPersVG § 46 Nr. 1; 17. April 1985 – 5 AZR 74/84 – BAGE 48, 229). Mit der Bezeichnung „Brutto” ist gemeint, daß zwischen den Parteien keine besondere Abrede getroffen ist, durch die der Arbeitgeber verpflichtet wird, Abgaben zu tragen, die auf das von ihm geschuldete Entgelt zu entrichten sind (vgl. BAG 26. Mai 1998 – 3 AZR 96/97 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 207= EzA TVG § 4 Bauindustrie Nr. 90).

b) Schuldner der Lohnsteuer ist zwar nach § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG der Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber ist aber nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG verpflichtet, bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des Arbeitnehmers die Lohnsteuer einzubehalten und nach § 41 a Abs. 1 EStG an das Finanzamt abzuführen. Entsprechendes gilt für den vom Arbeitnehmer zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags. Nach § 28 g SGB IV ist der Arbeitgeber berechtigt und verpflichtet, ihn vom Arbeitsentgelt abzuziehen und an den Sozialversicherungsträger abzuführen.

c) Der Arbeitgeber erfüllt den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers dadurch, daß er die vom Arbeitnehmer geschuldeten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge vom Entgelt einbehält, an das Finanzamt und den zuständigen Sozialversicherungsträger abführt sowie das verbleibende Entgelt an den Arbeitnehmer auszahlt (BAG 29. Juli 1980 – 6 AZR 231/78 – aaO und – 6 AZR 1098/78 – aaO). Führt der Arbeitgeber die einbehaltenen Beträge ab, leistet er „kraft gesetzlicher Anordnung an Dritte mit der Folge der Schuldbefreiung nach § 362 BGB” (Weber, aaO, III). Die bürgerlich-rechtliche Schuld des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer erlischt (vgl. BAG 29. Juli 1980 – 6 AZR 231/78 – aaO und – 6 AZR 1098/78 – aaO; 17. April 1985 – 5 AZR 74/84 – aaO; BGH 21. April 1966 – VII ZB 3/66 – AP BGB § 611 Lohnanspruch Nr. 13). Ein Arbeitgeber gerät daher gegenüber dem Arbeitnehmer in Schuldnerverzug, wenn er die einzubehaltenden Entgeltbestandteile nicht abführt. Die öffentlich-rechtlichen Einbehaltens- und Abführungspflichten lassen die bürgerlich-rechtlichen Voraussetzungen des Schuldnerverzugs unberührt.

2. Die vom Zweiten Senat im Anschluß an Weber (aaO unter IV 2) vertretene Auffassung, ein Anspruch auf Verzugszinsen aus dem Lohnsteueranteil des Bruttoentgelts könne erst nach „Auszahlung bzw. Vollstreckung der Nettovergütung” entstehen, weil der Steueranspruch des Staates erst mit der Auszahlung an den Arbeitnehmer (dem Zufluß) fällig werde, trifft nicht zu.

Für den Beginn des Schuldnerverzugs ist allein maßgeblich, wann die Entgeltforderung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber fällig wird. Hierfür ist unerheblich, zu welchem Zeitpunkt der Staat vom Arbeitnehmer die Zahlung von Lohnsteuern beanspruchen und den Arbeitgeber für deren Abführung haftbar machen kann. Denn im bürgerlich-rechtlichen Verhältnis wird nicht eine „Netto-Vergütung” und ein zusätzlicher Betrag für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, sondern ein „Brutto-Entgelt” nach § 611 BGB geschuldet (vgl. BFH 9. Mai 1985 – VR 103/79 – BFH/NV 1985, 56).

Der Zweite Senat macht mit seiner Auffassung den Verzugsbeginn von steuerlichen Merkmalen abhängig. Er geht damit vom Vorrang des Steuerrechts für den bürgerlich-rechtlichen Schuldnerverzug aus. Das ist unzutreffend und bereitet der Praxis überdies unlösbare Folgeprobleme, weil dann der Umfang des Verzugs des Arbeitgebers im ungewissen bleibt. Außerdem ist das einem Arbeitnehmer auszuzahlende „Netto-Entgelt” im Erkenntnisverfahren nicht bestimmbar: Die Lohnsteuerschuld kann erst nach Abschluß des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens aufgrund der individuellen steuerlichen Merkmale des Arbeitnehmers einschließlich Kumulation und Progression berechnet werden. Maßgeblich hierfür ist der tatsächliche Auszahlungszeitpunkt.

3. Der Arbeitgeber kann entgegen der vom Zweiten Senat im Anschluß an Weber (aaO, IV 2) vertretenen Auffassung gegenüber einem Anspruch eines Arbeitnehmers auf Auszahlung der Lohnsteuerbeträge mit seinem Anspruch auf Einbehaltung nicht aufrechnen und so rückwirkend den Verzug beseitigen.

a) Die Erklärung der Aufrechnung gegenüber dem Arbeitnehmer (§ 388 BGB) bewirkt, daß rückwirkend zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Anspruch des Arbeitnehmers auf das Arbeitsentgelt als erloschen gilt (§ 389 BGB). Für den sich mit der Lohnsteuer deckenden Teil des Arbeitsentgelts fehlt es jedoch an der nach § 387 BGB erforderlichen Gleichartigkeit des Gegenstandes im Verhältnis der von Arbeitnehmer und Arbeitgeber einander geschuldeten Leistungen.

Der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers, gegen den nach Auffassung des Zweiten Senats aufgerechnet werden kann, ist eine Geldforderung. Im Unterschied dazu ist das Gegenrecht, mit dem nach Meinung des Zweiten Senats der Arbeitgeber aufrechnen kann, eine Forderung mit einem anderen Inhalt. Die öffentlich-rechtliche Pflicht des Arbeitgebers, nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 und § 41 a Abs. 1 Satz 1 EStG von dem Arbeitsentgelt den individuellen Lohnsteueranteil einzubehalten und für Rechnung des Arbeitnehmers an das Finanzamt abzuführen, begründet keinen Zahlungsanspruch zugunsten des Arbeitgebers, sondern nur die arbeitsrechtliche Verpflichtung des Arbeitnehmers, die Einbehaltung zum Zwecke der Abführung an das Finanzamt zu dulden. Gegenstand des Gegenrechts ist somit kein mit einer Geldforderung gleichartiger Anspruch auf Herausgabe oder auf sonstige Wertverschaffung. Der Arbeitgeber hat kein Recht zum Behaltendürfen, sondern nur zur Abführung dieser Beträge an die zuständigen Stellen.

Für den vom Arbeitnehmer zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags gilt insoweit nichts anderes. Nach § 28 g SGB IV ist der Arbeitgeber öffentlich-rechtlich ermächtigt und verpflichtet, den vom Arbeitnehmer zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags vom Entgelt abzuziehen und spätestens am 15. des Folgemonats an die zuständige Einzugsstelle abzuführen (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV).

Zwar hat das Bundessozialgericht in dem Abzug vom Arbeitsentgelt eine konkludente Aufrechnungserklärung gesehen (BSG 25. Oktober1990 – 12 RK 27/89 – BSGE 67, 290, 292). Aus der nachfolgenden Erläuterung des Gerichts, der Arbeitgeber habe einen Anspruch darauf, daß der Arbeitnehmer die Aufrechnung dulde, folgt jedoch, daß damit keine Aufrechnungserklärung im Sinne von § 388 BGB gemeint sein kann. Denn ein auf die Duldung des Abzugs vom Arbeitsentgelt gerichteter Anspruch des Arbeitgebers ist nicht – wie nach § 387 BGB gefordert – mit der dem Arbeitnehmer geschuldeten Entgeltforderung gleichartig, so daß auch nicht das beiderseitige Erlöschen der Ansprüche nach § 389 BGB eintreten kann.

b) Der Arbeitgeber kann sich zwar gegenüber dem Arbeitnehmer auf sein Einbehaltungs- und Abzugsrecht berufen. Solange er die vom Arbeitnehmer zu tragenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt hat, bleibt aber seine Geldschuld weiter bestehen. Folglich schuldet er im Falle des Verzugs auch Verzugszinsen hierfür. Der Grundsatz der Akzessorität des Zinsanspruchs zum Entgeltanspruch führt zu keiner Minderung der Bemessungsgrundlage. Hauptschuld im Sinne von § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB ist nicht etwa der um die Abzüge geminderte „Nettobetrag”, sondern das volle vom Arbeitgeber arbeitsvertraglich geschuldete „Brutto-Entgelt”. Seiner Leistungspflicht hat der Arbeitgeber erst genügt, wenn dieses Entgelt an den Arbeitnehmer, das Finanzamt und den Sozialversicherungsträger ausgezahlt ist.

Nur insoweit der Arbeitgeber Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bereits abgeführt hat, kann er nicht in Verzug geraten. Das folgt aus § 362 BGB, den der Zweite Senat unbeachtet läßt, weil er statt dessen § 387 ff. BGB für einschlägig hält.

Soweit der Zweite Senat meint, die Rechtsauffassung des Neunten Senats führe „zu keinem anderen Ergebnis” als die des Vierten Senats, beruht das auf einem Mißverständnis. Der Zweite und der Vierte Senat gelangen mindestens in den Fällen zu einem anderen Ergebnis, in denen der Arbeitgeber mitunter erst Jahre nach der Verurteilung zur Zahlung des Entgelts Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abführt. Nach der Auffassung, an der der Zweite und Vierte Senat festhalten, gerät der Arbeitgeber trotz seiner Säumnis nicht in Verzug. Das ist mit § 284 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht vereinbar.

c) Die von Weber in seiner Anmerkung (aaO, IV 2 c) dargestellte und vom Zweiten Senat übernommene Meinung, der Arbeitgeber habe gegen den Entgeltanspruch eine „Aufrechnungsmöglichkeit”, ist unzutreffend. Führt der Arbeitgeber aufgrund öffentlich-rechtlicher Pflichten Teile des Entgelts ab, so erlischt in diesem Umfang die Geldschuld des Arbeitgebers (§ 362 Abs. 2 BGB). Für ein die Erfüllung fingierendes Rechtsgeschäft „Aufrechnung” besteht dann keine Anwendungsmöglichkeit mehr. Denn mit der Abführung der einbehaltenen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ist die Schuld bereits durch Erfüllung erloschen. Mit einer Aufrechnung kann somit der erstrebte Erfolg, daß die Forderungen, gegen die aufgerechnet wird, „als … erloschen gelten” (§ 389 BGB), nicht mehr erreicht werden.

Für den von Weber (aaO) erörterten Fall, daß der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zwar den sog. „Nettolohn” auszahlt, aber nicht die einbehaltenen Abzüge abführt, wäre eine Aufrechnungserklärung von vornherein ungeeignet, Aufrechnungswirkungen zu erzeugen, weil der Arbeitgeber kein gleichartiges Gegenrecht hat, das deckungsgleich der Entgeltforderung des Arbeitnehmers gegenübertreten kann (vgl. III 3 a).

d) Unabhängig von diesen Rechtsfragen scheidet in dem der Anrufung des Großen Senats zugrunde liegenden Rechtsstreit die rückwirkende Fiktion einer Erfüllung nach § 389 BGB schon deshalb aus, weil die Beklagte weder ausdrücklich noch konkludent die nach § 388 BGB erforderliche Aufrechnungserklärung gegenüber dem Kläger abgegeben hat. Weder hat die Beklagte die Abgabe einer entsprechenden Erklärung vorgetragen, noch hat das Landesarbeitsgericht sie festgestellt.

Für die Annahme einer konkludenten Aufrechnung fehlen die erforderlichen tatsächlichen Anhaltspunkte. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte das Bestehen der rechtskräftig erkannten Ansprüche des Klägers wegen provisionspflichtiger Geschäfte aus 1989 und als Sonderzuwendung für 1988 stets verneint. Die Beklagte hat 1990 zur Abwendung der Zwangsvollstreckung aus dem arbeitsgerichtlichen Urteil den vollen, dem Kläger zuerkannten „Brutto-Betrag” ausgezahlt. Die Beklagte hat die vom Kläger zu tragenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht einbehalten. Sie hat auch nicht ein Recht zur Einbehaltung geltend gemacht, um die unterlassene Abführung nachzuholen.

4. Der Vierte Senat hatte im Urteil vom 20. April 1983 (aaO) seine Auffassung, Prozeßzinsen könnten nur aus dem der Bruttovergütung entsprechenden Nettobetrag verlangt werden, damit begründet, Prozeß- und Verzugszinsen sollten dem Gläubiger einen Ausgleich dafür gewähren, daß der Schuldner seiner Zahlungsverpflichtung nicht rechtzeitig nachkomme. Dann knüpfe der Zinsanspruch nur an den Geldbetrag an, der dem Gläubiger tatsächlich zufließen könne. Im Anschluß daran hat der Zweite Senat ausgeführt, daß Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung die Verzinsung des Bruttoentgelts ausschließen: Ein pauschaler Schadenersatz setze voraus, daß „eine Schadensentstehung mindestens denklogisch möglich” wäre. Daran fehle es, weil der Arbeitnehmer die abzuführenden Gelder nicht zinsbringend verwenden könne.

Diesen Erwägungen kann nicht zugestimmt werden.

a) Zwar werden Zinsen regelmäßig als Gegenleistung für die Überlassung von Kapital geschuldet. Daraus ergibt sich aber nicht, daß der gesetzlich geschuldete pauschale Schadenersatz ausschließlich dazu dient, mögliche Zinsschäden des Gläubigers auszugleichen. § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB ist diese Beschränkung nicht zu entnehmen. Vielmehr erwirbt der Gläubiger zum Ausgleich möglicher Schäden einen zusätzlichen Geldanspruch, der 4 vH der geschuldeten Summe umfaßt.

Den Gesetzesmaterialien ist nichts anderes zu entnehmen. Im Gesetzgebungsverfahren zum BGB ist die Kommission davon ausgegangen, daß es einem praktischem Bedürfnis entspreche, einen Durchschnittsbetrag als Schaden festzusetzen, von dem angenommen werde, „daß der Gläubiger ihn jedenfalls hätte ziehen können, und den er fordern darf, ohne eine Zinseinbuße oder einen sonstigen Schaden beweisen zu müssen” (Motive Band 2 Seite 34). Auch der Ausgleich anderer Schäden wird damit von § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB gedeckt.

Die Frage nach der Höhe eines möglichen Schadens stellt sich im Zusammenhang mit den gesetzlichen Zinsen deshalb nicht. Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB sind ein „unwiderleglich angenommener Mindestersatz, der dem Gläubiger sogar wegen einer an sich unverzinslichen Forderung zusteht” (BGH 29. Oktober 1952 – II ZR 47/52 – NJW 1953, 337). Ob dem Gläubiger tatsächlich ein Schaden durch die Vorenthaltung des ihm geschuldeten Betrags entsteht oder entstehen kann, ist für den gesetzlichen Zinsanspruch unerheblich (vgl. BGH 14. April 1983 – VII ZR 258/82 – DB 1983, 2033 zur Verzinsung des Kostenvorschusses). Nur ein „weiterer Schaden” nach § 288 Abs. 2 BGB ist darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen.

b) Die Pflicht des Arbeitgebers, Zinsen auch für die Entgeltbestandteile zu zahlen, die einzubehalten und abzuführen sind, widerspricht entgegen der Ansicht des Zweiten Senats nicht dem „Sinn und Zweck” der gesetzlichen Regelung.

Die Entstehung eines Schadens ist nicht „denklogisch” ausgeschlossen. Die Säumnis des Arbeitgebers kann aufgrund der im Steuerrecht geltenden Kumulation und Progression eine höhere steuerliche Belastung des Arbeitnehmers bewirken. Vergleichbare Auswirkungen sind bei einer Änderung der persönlichen Steuermerkmale oder beim Wegfall von Freibeträgen möglich. Die Belastung des säumigen Schuldners mit den Mindestzinsen soll im Interesse der Schadensverhütung den Schuldner zur termingerechten Erfüllung anhalten. Der Schuldner soll daher nicht mit Geldmitteln spekulieren können, die ihm nicht zustehen (BGH 20. Mai 1985 – VII ZR 266/84 – NJW 1985, 2325).

c) Die Erwägungen des Zweiten und des Vierten Senats sind mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zu § 291 Satz 1, § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht vereinbar. Danach wird der Zinsanspruch als Risikozuschlag angesehen, den der Schuldner zu tragen hat, weil er es überhaupt zum Prozeß hat kommen lassen (BGH 14. Januar 1987 – IV b ZR 3/86 – NJW – RR 1987, 386; BSG 14. Dezember 1988 – 9/4b RV 39/87 – NJW 1989, 3237; BVerwG 7. Juni 1958 – V C 272.57 – BVerwGE 7, 95). Die Beschränkung der Bemessungsgrundlage des Zinsanspruchs auf den „Nettobetrag” widerspricht dieser Zielsetzung. Der Schuldner hat dem Gläubiger nicht nur den entsprechenden Nettobetrag vorenthalten, sondern das Bestehen der Forderung insgesamt verneint und deshalb auch nicht seine Verpflichtung zur Abführung erfüllt. Anzunehmen, daß ein Schuldner, der das Bestehen der Hauptforderung leugnet, dennoch willens sei, Abführungspflichten zu erfüllen, ist paradox.

5. Die vom Vierten Senat vertretene Auffassung „einer am Vollstreckungsrecht orientierten, differenzierenden Lösung” kann für ein Prozeßgericht im Erkenntnisverfahren nicht maßgeblich sein. Gründe für die Einstellung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung sind gegenüber dem zuständigen Vollstreckungsgericht geltend zu machen. Sie sind dem Erkenntnisverfahren zeitlich nachgeordnet. Im Erkenntnisverfahren ist das Gericht nicht befugt, einem Kläger wegen Vollstreckungshindernissen einen materiell-rechtlichen Anspruch zu versagen, jedenfalls dann nicht, wenn sie später entstehen.

6. Gegen das Festhalten an der Rechtsprechung des Zweiten und des Vierten Senats sprechen prozessuale Bedenken. Ein Klageantrag, mit dem die Verzinsung „des sich aus dem Bruttoentgelt ergebenden Nettobetrags” begehrt wird, entspricht nicht dem Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Bezifferung der gerichtlich geltend gemachten Forderung ist zwingende Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Klageerhebung. Da für die Ermittlung des Nettobetrages die zum maßgeblichen Zuflußzeitpunkt vorliegenden individuellen Merkmale im Erkenntnisverfahren nicht im voraus festgestellt werden können, ist damit der Umfang der Rechtskraft des Urteils ungewiß. Deshalb können weder Gerichtsvollzieher noch in Anspruch genommene Drittschuldner anhand des Urteils den geschuldeten Zinsbetrag ermitteln.

Ist die Zahlung von Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträgen nicht nachgewiesen, kann entgegen der Auffassung des Vierten Senats bei der Vollstreckung eines Zinsanspruchs, der nach dem Urteilsausspruch auf „einen dem Bruttobetrag entsprechenden Nettobetrag” beschränkt ist, nicht davon ausgegangen werden, daß die Nettovergütung der Bruttovergütung entspreche. Dem widerspricht der gerichtliche Urteilsausspruch im Erkenntnisverfahren. Die „am Vollstreckungsrecht orientierte differenzierende Lösung” des Vierten Senats gibt dem Kläger dann mehr, als er beantragt hat. Das verstößt gegen § 308 Abs. 1 ZPO.

7. Die Beschränkung der Bemessungsgrundlage für den Zinsanspruch auf den „Nettobetrag” ist nicht mit der Rechtsprechung des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichts zur Zahlung von Ausbildungskosten (BAG 6. November 1996 – 5 AZR 334/95 – BAGE 84, 282) und des Siebten Senats zur Rückzahlung rechtsgrundlos erbrachter Arbeitgeberleistungen (BAG30. April 1997 – 7 AZR 122/96 – AP BGB § 812 Nr. 20) vereinbar. Danach ist der Arbeitnehmer verpflichtet, nicht nur das empfangene Entgelt zurückzuzahlen sondern auch die vom Arbeitgeber für ihn abgeführten Steuern und den vom Arbeitgeber entrichteten Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung zuzüglich der gesetzlichen Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Leistungen des Arbeitgebers werden dem Arbeitnehmer somit in vollem Umfang zugerechnet, obgleich das Arbeitsentgelt ihm nicht insgesamt ausgezahlt worden ist.

8. Die Rechtsauffassung des Zweiten und des Vierten Senats enthält eine Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dieser geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß zB die Gehälter von GmbH-Geschäftsführern (vgl. BGH28. Oktober 1996 – II ZR 14/96 – NJW-RR 1997, 537) entsprechend dem ausgeurteilten Bruttoentgelt zu verzinsen sind. Unerheblich ist, daß in den veröffentlichten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu dieser Rechtsfrage bisher kein Rechtssatz formuliert worden ist. Anders als der Zweite Senat unterstellt, kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Bundesgerichtshof in dem zitierten Urteil nur versehentlich Zinsen auf den Bruttobetrag zugesprochen hat.

[1]

 

Unterschriften

Leinemann, Reinecke, Düwell, Klosterkemper, Trümner

 

Fundstellen

Haufe-Index 436528

BAGE, 168

BB 2000, 258

DB 2000, 283

DB 2000, 624

NWB 2000, 298

EBE/BAG 2000, 53

EWiR 2000, 513

FA 2000, 127

FA 2000, 93

NZA 2000, 414

SAE 2000, 263

ZIP 2000, 556

ZTR 2000, 120

AuA 2000, 174

MDR 2000, 706

AUR 2000, 65

LL 2000, 391

[1] Vorinstanz-Aktenzeichen

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge