Rz. 97

Durch die Existenz der Ersatz- und Ergänzungstatbestände von § 1 Abs. 2 und 3 GrEStG entsteht bei Hinzutreten des Grundtatbestandes von § 1 Abs. 1 GrEStG ein Konkurrenzverhältnis, das § 1 Abs. 6 S. 1 GrEStG dahingehend entscheidet, dass jeder der Rechtsvorgänge der Steuer unterliegt. Zur Vermeidung einer doppelten steuerlichen Erfassung ein und desselben Vorgangs greift auf der Erhebungsebene das Regulativ des S. 2 von § 1 Abs. 6 GrEStG ein, indem hiernach die Steuer nur insoweit erhoben wird, als die Bemessungsgrundlage (§§ 810 GrEStG) für den späteren Rechtsvorgang den Betrag überstiegt, von dem beim vorausgegangenen Rechtsvorgang die Steuer berechnet worden ist. Die Steuer-"Berechnung" liegt systematisch zwischen der Steuerfestsetzung und der Steuererhebung. Eine "Berechnung" der Steuer für den vorausgegangenen Rechtsvorgang ist demnach nicht gegeben, wenn keine Steuerfestsetzung erfolgte, weil der Rechtsvorgang steuerfrei war, fälschlich als steuerfrei behandelt wurde oder wenn für ihn aus Verfahrensgründen (z. B. wegen Festsetzungsverjährung, vgl. BFH, v. 19.7.1972, II R 204/65, BFHE 107, 55, BStBl II 1972, 914) keine Steuerfestsetzung möglich war. In diesen Fällen also unterliegt der nachfolgende Rechtsvorgang voll der Steuer (vgl. hierzu eingehend BFH v. 31.8.1994, II R 108/91).

Die steuerbaren Rechtsvorgänge nach § 1 Abs. 3a GrEStG wurden im Zusammenhang mit der Einführung dieser Vorschrift durch Art. 26 Nr. 1 Buchst. a Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz (AmtshilfeRLUmsG) v. 26.6.2013 (BGBl I 2013, 1809) durch Art. 26 Nr. 1 Buchst. b AmtshilfeRLUmsG in § 1 Abs. 6 GrEStG mit aufgenommen.

 

Rz. 98

Auf § 1 Abs. 6 S. 2 GrEStG kann sich nur berufen, wer bei den in Konkurrenz zueinander stehenden Rechtsvorgängen jeweils als Erwerber auftrat (sog. Erwerberidentität, vgl. BFH v. 14.11.1962, II 82/59, HFR 1963, 115), was im Verhältnis Erblasser/Erbe zumindest zweifelhaft ist. Außerdem müssen sich die Erwerbsvorgänge auf dasselbe Grundstück beziehen (sog. Grundstücksidentität, vgl. BFH v. 21.12.1977, II R 47/73, BStBl II 1978, 318). Erwerberidentität kann auch dann noch angenommen werden, wenn ein Erwerbsvorgang nach § 1 Abs. 3 GrEStG durch Anteilsvereinigung in der Hand einer von einem Alleingesellschafter beherrschten, grundbesitzenden Gesellschaft vorliegt und der Alleingesellschafter anschließend den Grundbesitz erwirbt. Die Steuer für den Erwerb des Grundbesitzes durch den Alleingesellschafter sollte aus Billigkeitsgründen nur insoweit erhoben werden, als die Bemessungsgrundlage für diesen Rechtsvorgang den Betrag übersteigt, von dem bei dem vorausgegangenen Erwerb durch die zu 100 % beherrschte Tochter (§ 1 Abs. 3 GrEStG) die Steuer berechnet worden ist (gemeinsamer Ländererlass, vgl. FinMin Niedersachsen v. 23.9.1992, S 4501 – 34-36, StEd 1992, 607, DStR 1992, 1513, UVR 1992, 398). Diese Billigkeitsregelung wurde von der Finanzverwaltung aufgegeben (vgl. FinMin Sachsen-Anhalt v. 5.12.2018, VV ST FinMin 2018-12-05-42-S 4521-12).

Kein Anwendungsfall des § 1 Abs. 6 S. 2 GrEStG ist im nachfolgenden Sachverhalt gegeben:

 

An einer GbR X sind A und B – 2 natürliche Personen – beteiligt. Die GbR erwirbt im Jahr 2007 Grundbesitz. Anfang 2008 wird A insolvent und scheidet gem. einer gesellschaftsvertraglichen Regelung ohne Abfindung aus der GbR aus. Das Vermögen wächst mithin B an.

Der Grunderwerbsteuer unterliegt neben dem Grundstückserwerb der GbR X im Jahr 2007 (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG) auch der im Wege der Anwachsung (§ 738 BGB) bewirkte Grundstückserwerb des B (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 GrEStG). Beim letzteren Erwerbsvorgang bleibt die Grunderwerbsteuer auf der Grundlage von § 6 Abs. 2 GrEStG teilweise unerhoben. Steuerschuldner beim ersten Erwerb ist gem. § 13 Nr. 1 GrEStG die GbR X und der Veräußerer als Gesamtschuldner. Steuerschuldner beim 2. Erwerbsvorgang ist gem. § 13 Nr. 2 GrEStG die GbR X und B als Gesamtschuldner.

Auch wenn B aufgrund der gesamthänderischen Bindung des Gesellschaftsvermögens verpflichtet ist, für die Grunderwerbsteuer der GbR einzustehen, und seinem gem. § 426 Abs. 2 BGB gegen A bestehenden Ausgleichsanspruch faktisch kein Wert beigemessen werden kann, scheidet eine Anwendung des § 1 Abs. 6 GrEStG aus. Einerseits liegt die notwendige Erwerberidentität offensichtlich nicht vor. Andererseits können aber auch die Billigkeitserwägungen im o. a. Sonderfall des nachfolgenden Erwerbs des Grundbesitzes einer Gesellschaft durch deren Alleingesellschafter nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Denn bei diesem Sonderfall ist – anders als im vorliegenden Sachverhalt – der Grundbesitz dem Alleingesellschafter bereits vor dem eigentlichen Erwerb über seine 100-prozentige Gesellschaftsbeteiligung grunderwerbsteuerlich voll zuzurechnen.

§ 1 Abs. 6 GrEStG ist auf Rechtsvorgänge des § 1 Abs. 2a GrEStG nicht anzuwenden. In den Fällen des § 1 Abs. 2a GrEStG fehlt es an der erforderlichen Erwerber­identität, weil die Vorschrift den Übergang eines Grundstücks von einer (alten) Personengesellschaft a...

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